Vor den Wahlen setzen Tunesiens gemässigte IslamistInnen auf Kompromiss und ziehen damit die Lehren aus den Fehlern der Muslimbruderschaft in Ägypten. Diese scheiterte an ihrer übereifrigen Machtpolitik.
Tunesiens turbulente Übergangsphase nach dem Sturz Zine El Abidine Ben Alis 2011 bewegt sich auf das Ende einer wichtigen Etappe zu. Nach mehreren Regierungswechseln, Generalstreiks und der Ratifizierung einer neuen Verfassung im Januar 2014 wählt Tunesien am 26. Oktober ein neues Parlament und am 23. November einen neuen Präsidenten. Das Abschneiden der moderaten Islamistenpartei Ennahda bei der Parlamentswahl ist dabei von großem Interesse, schließlich geht in Tunis nichts mehr ohne sie. Doch die Partei hat aus der jüngeren Geschichte Ägyptens und dem Machtverlust der Muslimbrüder vor rund einem Jahr ihre Lehren gezogen und versucht den Eindruck zu vermeiden die Macht monopolisieren zu wollen. Sie nominierte keinen eigenen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl und will sich lieber auf das Parlament konzentrieren, schließlich stärkt die neue Verfassung die Kompetenzen und Befugnisse der Kammer (in gekürzter Fassung erschienen bei Die Wochenzeitung am 16.10.2014).
Nach dem rasanten Aufstieg islamistischer Kräfte in ganz Nordafrika seit 2011 könnte der gegenwärtige Status Quo der verschiedenen Parteien und Bewegungen verschiedenartiger nicht sein. Während Tunesiens Ennahda und Marokkos moderat islamistische Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (PJD) unter dem amtierenden Premier Abdellilah Benkirane auch in Zukunft eine wichtige Rolle im politischen Geschäft ihrer Länder spielen werden, haben sich Ägyptens Muslimbrüder verkalkuliert und durch ihre machthungrige Politik – zumindest vorläufig – ins Abseits manövriert. Aber warum lenken Marokkos PJD und Ennahda weiter die Geschicke ihrer Länder, während die Muslimbruderschaft politisch kalt gestellt wurde?
Der politische Aufstieg der Muslimbrüder nach dem Sturz Hosni Mubaraks 2011 war rasant, zielgerichtet, exklusiv und riskant. Nach nur einem Jahr im Amt setzte der damalige Armeechef und heutige Staatspräsident Abdel Fattah El Sisi den Islamisten Mohamed Mursi im Juli 2013 als Staatschef ab. Das Militär und der noch von alten Regimekadern durchsetzte Staatsapparat initiierten eine beispiellose Kampagne gegen die Bruderschaft und ihre Sympathisanten, die in der brutalen Räumung zweier Protestlager der Islamisten am 14. August 2013 gipfelte. Hunderte ihrer Anhänger wurden getötet, tausende inhaftiert und ihre politischen Strukturen in den folgenden Monaten systematisch zerschlagen. Der Aufstieg der gemäßigten Islamisten am Nil war gestoppt, ihre Strategie auf demokratischem Wege politischen Einfluss langfristig zu sichern gescheitert. Sie hatten mit Mursis Wahlsieg den Zenit ihrer politischen Macht erklommen und damit ihren raschen institutionellen Aufstieg im Staatsapparat gekrönt. Nur ein Jahr nach Mursis Amtseinführung stand die Organisation vor einem Scherbenhaufen.
Trotz ihrer islamistischen Agenda hat sich die Bruderschaft angepasst und kompromissbereiten Kadern den Aufstieg erlaubt. Doch sie hatte sich verkalkuliert und die alten Seilschaften des partiell gestürzten Regimes unterschätzt. „Den größten Fehler, den sie gemacht haben, war es mit den radikalislamistischen Salafisten zu koalieren“, sagt Abdulbar Zahran von der Partei der Freien Ägypter. Im Gegensatz zu den moderaten Islamisten Tunesiens und Marokkos setzten die Muslimbrüder auf einen radikalen Partner. Doch das alte Regime nutze die Unzufriedenheit im Land mit der polarisierenden Politik der Islamisten geschickt aus und diese bekamen im Juli 2013 die Quittung für ihre übereifrige Machtpolitik und wurden gewaltsam entmachtet.
Heute stehen die Zeichen auf Entspannung – zumindest hinter vorgehaltener Hand. Schließlich versprach Präsident Sisi der Bruderschaft keinen Platz in der politischen Sphäre am Nil einräumen zu wollen. Schon seit Februar häufen sich seitens der Bruderschaft jedoch Anzeichen in Richtung Annäherung. Die jüngste Haftentlassung mehrerer hoher Funktionäre der Bruderschaft hat Spekulationen Auftrieb verliehen, nach denen der moderate Flügel der Organisation die Gründung einer neuen Partei beabsichtige und unter Bedingungen gar Sisi als Interimspräsident akzeptieren wolle. Unwahrscheinlich ist dieses Szenario nicht, schließlich zeichnet sich das Verhältnis zwischen regierendem Militär und den Muslimbrüdern bereits seit den 1950ern durch immer wiederkehrende partielle politische Kooperationen und Kooptationen aus.
Derweil haben Tunesiens und Marokkos Islamisten kompromissbereitere Wege eingeschlagen. Marokkos König Mohamed VI reagierte auf die Proteste 2011 mit der partiellen politischen Öffnung. Seither stellt die PJD mit Benkirane den Premier und regiert mit wechselnden Koalitionspartnern aus dem monarchietreuen Lager. Auch Ennahda setzte auf Kompromiss und koaliert mit zwei zentristischen Parteien. „Ennahda-Chef Rachid Ghannouchi ist pragmatisch. Er weiß, dass er den Weg nicht allein gehen kann und auf Kooperationspartner angewiesen ist“, sagt Khalid El Kaoutit, Korrespondent der Deutschen Welle in Kairo. Ennahda pflegt zwar Verbindungen zu salafistischen Kräften und wurde immer wieder für ihre Kontakte zu islamistischen Schlägertrupps kritisiert, die vor allem an Tunesiens Universitäten für Unruhe sorgten, doch nach den Morden an den beiden Oppositionspolitikern Chokri Belaïd und Mohamed Brahmi 2013 zog sich die Partei nach öffentlichem Druck aus der Regierung zurück und akzeptierte die Einsetzung einer Technokratenregierung als Übergangskabinett. Auch beim Entwerfen der neuen Verfassung ließ sich Ennahda trotz ihrer Mehrheit in der Versammlung auf Kompromisse ein und setzt auch heute kurz vor den Wahlen auf Konzessionen. So verzichtete sie auf einen eigenen Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen und strich mehrere dem radikalen Parteiflügel angehörige Politiker von den Wahllisten für die Parlamentswahlen. Ennahda will die Integration ins System, sie will regieren. Das ägyptische Szenario war ein Warnschuss. Sie muss keinen Militärputsch fürchten – Tunesiens Armee ist schwach und unpolitisch – doch hat das Land eine starke und aktive Zivilgesellschaft, die seit 2011 mehrfach zeigte, dass sie mit Protesten und Streiks jede Regierung unter Druck setzen kann, wenn diese den Ruf der Straße ignoriert. „Kompromiss ist die Lösung“, betont Ghannouchi denn auch jüngst in der libanesischen Zeitung Al Akhbar.
Ennahda hat gute Chancen bei den Urnengängen ihren Einfluss zu festigen. Mit dem amtierenden Präsident Moncef Marzouki, der zu den Favoriten bei der Wahl zählt, hat sie gute Kontakte. Auch gilt eine Bestätigung von Premier Mehdi Jomâa im Amt als wahrscheinlich. Er ist parteipolitisch unabhängig, gilt aber als Vertreter Ennahdas und fähig die lagerübergreifende Kooperation fortzuführen. Gründe für die strategische Kompromissbereitschaft Ennahdas spiegelt sich im politischen Spielraum wieder, der sich 2011 im Land auftat. „Das Königshaus in Marokko und der Militärapparat in Ägypten waren unantastbar, während in Tunesien nach dem Sturz Ben Alis ein Machtvakuum entstand. Dieses Vakuum zwang Tunesiens Parteien zur Kooperation“, sagt El Kaoutit. Marokkos König und das Militär in Ägypten seien Mächte, die alle Macht im Staate für sich beanspruchen. In Tunesien hingegen gäbe es keine solche Institution, so El Kaoutit. In Ägypten versuchten die Muslimbrüder die Macht an sich zu reißen, und scheiterten, weil sich dort jede politische Kraft dem Militär unterordnen muss. In Tunesien waren die politischen Kräfte hingegen von Beginn an gezwungen den Ausgleich zu suchen. Ägyptens Muslimbrüder glaubten sich dauerhaft mit den Generälen arrangiert zu haben, doch diese nutzen die erste Gelegenheit, um sich der verhassten Muslimbruderschaft zu entledigen und die alte politische Ordnung wiederherzustellen. Währenddessen bleibt Tunesien dank seiner starken Zivilgesellschaft das einzige Land in der Region, in dem politischer Pluralismus langfristig Chancen hat.
© Sofian Philip Naceur 2014