Tunesiens politischer Übergang nach dem Sturz Zine El Abidine Ben Ali im Januar 2011 neigt sich dem Ende einer wichtigen Etappe zu. Noch vor der Präsidentschaftswahl am 23. November wählt Tunesien am kommenden Sonntag ein neues Parlament. Drei Jahre nach der Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung, die seither als Übergangsparlament fungiert, bekommt das Land damit seine erste legislative Volksvertretung, die sich auf Grundlage der im Januar 2014 verabschiedeten neuen Verfassung konstituiert. Erwartet wird ein Kopf an Kopf Rennen zwischen der gemäßigt islamistischen Ennahda-Partei, die bisher die Mehrheit der Abgeordneten im Übergangsparlament stellte, und der erst im April 2012 gegründeten Partei Nidaa Tounes (Ruf Tunesiens) von Béji Caïd Essebsi. Nidaa Tounes versteht sich als moderner Gegenpol zur islamistischen Ennahda und zielt explizit darauf ab deren politischen Einfluss zu begrenzen. Keine der beiden Parteien dürfte eine absolute Mehrheit in der 217köpfigen Abgeordnetenkammer erlangen (erschienen in Junge Welt am 23.10.2014).
Das Land steuert erneut auf eine Koalitionsregierung zu. Schon Ennahda ging nach ihrem Sieg bei der Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung, bei sie 37 Prozent der Stimmen erreichte, eine Koalition mit zwei kleineren Parteien ein, dem Kongress für die Republik (CPR) des amtierenden Präsidenten Moncef Marzouki und der sozialdemokratischen Ettakatol. Die Koalition zerbrach im Sommer 2013 nach den Morden an den Oppositionellen Mohamed Brahmi und Chokri Belaïd. Ein Generalstreik und Proteste zwangen Ennahda sich aus der von ihr geführten Regierung zurückzuziehen und ein Technokratenkabinett zu akzeptieren.
Ennahda positionierte sich im Vorfeld des Urnengangs betont gemäßigt und kompromissbereit. So strich sie mehrere Kandidaten des radikalen Parteiflügels von ihren Wahllisten und verzichtete öffentlichkeitswirksam darauf einen eigenen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen aufzustellen. In der libanesischen Zeitung Al Akhbar betonte Ennahda-Chef Rachid Ghannouchi Ende September die Lösung für Tunesiens politische Zukunft heiße Konsens. Die Partei hatte zuletzt in Umfragen an Unterstützung eingebüßt und weiß, dass sie nur im Rahmen einer Koalitionsregierung weiter regieren kann. Ihre Nähe zu salafistischen Kräften im Land hat jedoch nachhaltig ihre Glaubwürdigkeit untergraben. Sowohl die Angriffe islamistischer Schlägertrupps auf den Hauptsitz der UGTT, der größten Gewerkschaft des Landes, Ende 2012 als auch die Belagerung der Universitäten durch Ennahda-treue Studenten, stehen Ghannouchis moderatem Auftreten gegenüber. Die Partei ist gefangen zwischen ihrem Anspruch Tunesien zu regieren und Kompromisse einzugehen und ihren politischen Wurzeln, die sie die Augen schließen lässt vor den Aktivitäten salafistischer Kräfte im Land.
Doch auch Nidaa Tounes hat Probleme sich als Alternative zu Ennahda zu präsentieren, schließlich gilt die Partei als Auffangbecken für vormalige Funktionäre der Konstitutionellen Demokratischen Sammlung (RCD), der aufgelösten Regime-Partei Ben Alis. Ihr Parteichef, der 86jährige Essebsi, bekleidete bereits unter Ben Alis Vorgänger mehrere Ministerposten und war 2011 kurzweilig Interimspremier. Das Übergangsparlament diskutierte zudem ein Gesetz, dass ehemalige RCD-Mitglieder aus dem politischen Geschäft ausschließen sollte, doch die Verabschiedung des Textes scheiterte. Zahlreiche ehemalige RCD-Kader schlossen sich Nidaa Tounes an, doch auch Ennahda öffnete ihre Pforten für ehemalige RCD-Funktionäre.
Spannend wird das Abschneiden der kleineren Parteien, die bei anstehenden Koalitionsverhandlungen das Zünglein an der Waage sein könnten. Während die beiden Ex-Ennahda-Koalitionsparter CPR und Ettakatol massiv an Unterstützung verloren – 2011 landeten sie noch auf Platz zwei und vier hinter Ennahda – bleibt fraglich, wie die linke Volksfront des 2013 ermordeten Brahmi abschneiden wird. 2011 gewann die Partei zwei Sitze in der Verfassungsgebenden Versammlung. Gleiches gilt für die marxisitisch-nationalistische Bewegung Demokratischer Patrioten Chokri Belaïds. Mit offiziellen Wahlergebnissen wird Ende Oktober gerechnet.
© Sofian Philip Naceur 2014