Es waren chaotische und groteske Szenen zugleich. Am 9. Oktober 2011 zogen tausende christliche Kopten aus dem Nord-Kairoer Bezirk Shubra ins Stadtzentrum der ägyptischen Hauptstadt, versammelten sich vor dem Hauptsitz des Staatsrundfunks, genannt Maspero, am östlichen Nilufer und demonstrierten friedlich gegen die damals ausufernde sektiererische Gewalt im Land. Plötzlich fielen Schüsse, gepanzerte Fahrzeuge rasten in die Menge. Bei dem harten Vorgehen der Soldaten gegen den Protest starben 28 Demonstranten. Neun davon wurden erschossen. Zeitgleich berichtete der staatliche Rundfunk bewaffnete Christen hätten Soldaten angegriffen und rief die „ehrenhaften Bürger“ dazu auf die Streitkräfte zu beschützen. Hunderte folgten dem Aufruf und machten sprichwörtlich Jagd auf Demonstranten (erschienen in Junge Welt am 18.10.2014).
Regiert hat damals die Armee und diese weist seither jede Verantwortung für das Massaker entschieden zurück. Im September 2012 verurteilte ein Gericht drei Soldaten wegen fahrlässiger Tötung zu zwei und drei Jahren Haft. Zu wenig, sagen Angehörige der Opfer. Die verantwortlichen Offiziere und Generäle seien schließlich bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen worden, sagt Mina Magdy, Generalkoordinator der Jugendorganisation Maspero Youth Union am Rande der Mahnwache zum Gedenken an die Opfer vergangenen Donnerstag in Shubra. Einige hundert Menschen hatten sich trotz Befürchtungen einer polizeilichen Unterbindung des Protests im Zentrum des Viertels versammelt und forderten Gerechtigkeit. Nach zwei Stunden ließ die Polizei die Mahnwache friedlich auflösen.
Kurz zuvor waren tumultartige Meinungsverschiedenheiten zwischen Demonstranten ausgebrochen. Einige hatten begonnen militärkritische Parolen wie „Nieder mit der Militärherrschaft“ zu rufen, während andere die Slogans ablehnten. Ägyptens Kopten sind uneins wenn es darum geht die Verantwortlichen für die im Land vorherrschenden sektiererischen Spannungen zu benennen. Nach dem Maspero-Massaker wurden vor allem der damalige Militärchef Hussein Tantawi, der Generalstabschef der Armee Sami Anan und der Chef der Militärpolizei Hamdee Badeen für die Vorfälle verantwortlich gemacht.
Die militärkritische Haltung ägyptischer Christen erreichte damals ihren Zenit. Nachdem die Muslimbrüder kurz darauf die Parlamentswahl gewonnen hatten, der Islamist Mohamed Mursi zum Präsidenten Ägyptens gewählt wurde und die von islamistischen Kräften dominierte verfassungsgebende Versammlung im Winter 2012 die umstrittene islamistisch gefärbte Verfassung durch die Institutionen peitschte, verlagerte sich das Zentrum der Kritik auf die polarisierende Politik der Bruderschaft. Sektiererische Vorfälle nahmen unter Mursi zu und Ägyptens Justiz lancierte zu diese Zeit vermehrt Anklagen wegen angeblicher Beleidigung des Islam. Daher unterstützten viele Christen Mursis Sturz durch das Militär – oder lehnten diesen zumindest nicht ab. Der damalige Armeechef und heutige Staatspräsident Abdel Fattah El Sisi ist immer noch populär – trotz der Verwicklung des Militärs in das Massaker. Doch die Haltung vieler Christen blieb ambivalent, man hatte schließlich sowohl mit der Bruderschaft als auch mit den Generälen schlechte Erfahrungen gemacht.
„Unter Sisi herrscht mehr Ordnung. Menschen werden wegen sexueller Belästigung und Rauchen in der U-Bahn bestraft, aber diejenigen, die Menschen getötet haben, werden nicht zur Rechenschaft gezogen“, sagt der Demonstrant Hanaa Gindy in Shubra. Auch Mosaad El Masry, Sprecher von Tamarud für Nord-Kairo, kritisiert die mangelnde Aufarbeitung des Massakers seitens der Armee, ist aber Mitglied der pro-militärisch orientierten Tamarud-Bewegung, die sich durch ihre harte Haltung gegenüber der Bruderschaft hervorgetan hat und Sisi unterstützt. Dennoch betont er: „Wenn Sisi auf Freundschaft mit Tantawi macht, dann ist das ein klares Zeichen an uns alle.“ Mit den Muslimbrüdern an der Macht hatten es Ägyptens Christen nicht leicht, doch auch das Militär hat in der Vergangenheit immer wieder sektiererische Spannungen für ihre Zwecke instrumentalisiert. Neben dem Militär und den Islamisten ist nach wie vor kein politisches Lager stark genug Wahlen zu gewinnen, für die Christen bleibt es eine Wahl zwischen Pest und Cholera.
© Sofian Philip Naceur 2014