Libyen versinkt wieder einmal im Chaos. Rund drei Jahre nach dem Sturz des Langzeitdiktators Muamar al-Ghaddafi erlebt das nordafrikanische Land eine weitere Flüchtlingswelle in die Nachbarländer Tunesien und Ägypten. Wochenlange gewalttätige Auseinandersetzungen in Libyens Hauptstadt Tripolis, dem ostlibyschen Benghazi und anderen Orten, bei denen seit Mitte Juli nach Angaben von Libyens Gesundheitsministeriums mindestens 200 Menschen starben und über 1000 verletzt wurden, bewegen vielerorts die Menschen zur Flucht. Wie Tunesiens Außenministerium und Beobachter in Tunis berichten, überqueren täglich zwischen 5000 und 6000 Menschen den Grenzübergang in Ras Jedir im Nordosten Tunesiens. Unter ihnen befinden sich auch zahlreiche ägyptische Staatsbürger, die meist in der libyschen Erdölindustrie beschäftigt sind. Die Regierungen in Tunis und Kairo sowie libysche Behörden kooperierten inzwischen eng bei der Evakuierung tausender Ägypter, die auf der libyschen Seite des Ras Jedir Grenzübergangs fest saßen. Nach Angaben von Ägyptens Regierung sind mittlerweile rund 12200 ägyptische Staatsangehörige aus Tunesien ausgeflogen worden (in Junge Welt am 12.8.2014).
Anfang August hatte Tunesien den Grenzübergang vorläufig geschlossen. Der Andrang an der Grenze sei zu groß gewesen, hieß es in Tunis. Im Zuge des Eingreifens der Polizei seien zwei Ägypter getötet worden, die libysche und auch die tunesische Grenzpolizei hatte Tränengas gegen die Menschen eingesetzt und Warnschüsse in die Luft abgefeuert. Bereits im März war der Grenzübergang kurzweilig dicht gemacht und kurze Zeit später wieder geöffnet worden. Angesichts der anhaltendes politischen Instabilitäten in Libyen ist die tunesisch-libysche Grenze immer wieder Schauplatz von Flüchtlingswellen aus dem krisengebeutelten Libyen. Tunesiens Regierung ist ob der hohen Anzahl an flüchtenden Menschen aus Libyen überfordert. Es sollen sich rund eine Million Menschen aus Libyen im Land aufhalten. Tunesien selber hat rund elf Millionen Einwohner. Da libysche Staatsbürger finanziell oft keine Hilfe benötigen hat der Exodus aus Libyen für das kleine Tunesien eher fiskalpolitische Probleme zur Folge. Der Wohnungsmarkt ist stark unter Druck geraten, die Inflation steigt und das subventionierte Benzin wird knapp, da libysche Bürger oft per Auto einreisen.
Inklusive der in Tunesien lebenden libyschen Flüchtlinge sollen sich mittlerweile rund zwei Millionen Libyer im Ausland aufhalten – bei einer Gesamtbevölkerung von nur sechs Millionen Menschen. Auch in Ägypten kommen wieder Flüchtlinge aus Libyen an. In Salloum im Nordwesten Ägyptens überquerten zuletzt wieder vermehrt libysche Staatsbürger die Grenze nach Ägypten. Derzeit kommen täglich rund 4000 Ägypter nach Salloum und fliehen vor den Kämpfen im Nachbarland. Zudem ziehen zahlreiche Länder ihr diplomatisches Personal aus Libyen ab. Neben den Regierungen der USA, Großbritanniens und Deutschlands riet auch die philippinische Regierung ihren Bürgern das Land schnellstmöglich zu verlassen – mit drastischen Folgen für Tunesiens Gesundheitssystem. Rund 3000 Menschen aus dem ostasiatischen Land waren in Tunesien als Ärzte oder medizinisches Hilfspersonal beschäftigt.
Die anhaltende Eskalation der Gewalt in Libyen hat auch sicherheitspolitische Folgen. Grenzüberschreitende Angriffe libyscher Islamisten nehmen stark zu. Der Waffenhandel in der Region wird noch heute aus Libyens Beständen genährt, die noch vom alten Regime angelegt wurden, aber auch durch die militärische Hilfe des Westens für die damals noch einheitlicher agierenden Gegnern Ghaddafis. Diese aus Europa und den USA nach Libyen gelieferten Waffen haben sich unkontrolliert in der gesamten Region verteilt. Nach Ghaddafis Sturz waren es Waffen aus Libyen, die den Konflikt in Mali anheizten. Weiterhin sind diese Waffen in die Hände von Extremisten in Tunesien, der ägyptischen Sinai-Halbinsel und Algerien geraten. Algerien macht derweil an der Grenze zu Tunesien mobil, um gemeinsam mit Tunesiens Armee gegen die Islamistengruppe Ansar al-Sharia vorzugehen, die zuletzt mehrere Angriffe auf Tunesiens Militär lanciert hatte. Alles in allem hat sich die westliche Aufrüstung der Ghaddafi-Gegner als sicherheitspolitischer Boomerang erwiesen, die Region ist derzeit instabiler denn je.
© Sofian Philip Naceur 2014