Nach dem Wahlsieg Abdel Fattah el-Sisis stellt Ägyptens Militärestablishment erneut den Staatspräsidenten und hat damit seine direkte politische Herrschaft am Nil faktisch vollständig wiederherstellen können.
Abdel Fattah el-Sisi – ehemaliger Verteidigungsminister, Ex-Armeechef und federführend bei der Absetzung des islamistischen, der Muslimbruderschaft nahe stehenden Ex-Präsidenten Mohamed Mursi im Juli 2013 – hat die Präsidentschaftswahl am Nil erwartungsgemäß deutlich gewonnen. Offiziellen Zahlen zufolge kam der bereits im Vorfeld der Wahl als sicherer Sieger geltende el-Sisi auf 96,9% der Stimmen. Sein einziger Gegenkandidat, der Linkspolitiker und Chef der Partei der Würde (Hizb al-Karama) Hamdeen Sabahi, landete mit 3,1% der Stimmen abgeschlagen auf Platz Zwei. Rund drei Jahre nach Beginn der Revolution und elf Monate nach Mursis Sturz ist die vom Militär dominierte Ordnung am Nil damit vollständig restauriert (Wahlanalyse für die Rosa Luxemburg Stiftung, erschienen am 6.6.2014).
Der Urnengang verlief weitgehend ruhig. Zwar hatte die von den Muslimbrüdern geführte National Alliance to Support Legitimacy (NASL), einer Koalition mehrerer islamistischer Gruppen, zu landesweiten Protesten rund um den Urnengang aufgerufen, doch blieben diese überwiegend schlecht besucht. Kurz vor Beginn der Abstimmung hatten sich erstmals seit Wochen wieder Anhänger des gestürzten Ex-Präsidenten in mehreren Provinzen Ägyptens versammelt, wie etwa in Helwan südlich von Kairo, und protestierten gegen die in ihren Augen illegitime Wahl. Bei den Zusammenstößen zwischen Protestlern und der Polizei in Helwan starben zwei Demonstranten. Auseinandersetzungen zwischen Anhängern Mursis und der Polizei setzten sich nach der Wahl fort. In Fayoum südlich von Kairo, und in Heliopolis in Ost-Kairo explodierten Sprengsätze, die jedoch keine nennenswerten Schäden verursachten.
Sabahis Wahlkampagnenleitung beklagte sich schon am ersten Wahltag über massive Verstöße gegen das Wahlgesetz. Armee und Polizei, die den Wahlgang mit einem Großaufgebot an Sicherheitskräften absichern sollten, hätten in diversen Wahllokalen Vertretern der Sabahi-Kampagne und seinen Anhängern, die für ihn abstimmen wollten, den Zutritt verwehrt. In einigen Lokalen seien gar Mitglieder seines Wahlkampfteams verhaftet worden. Sabahi legte bei dem mit der Überwachung der Wahl und der Auszählung der Stimmen beauftragten Präsidialen Wahlkomitee (PEC) Beschwerde gegen die vorläufigen Zahlen zur Wahlbeteiligung ein. Sabahi beklagte sich beim PEC zudem über die trotz gesetzlichem Verbot durchgeführte Wahlwerbung zugunsten el-Sisis in zahlreichen Wahllokalen, die Verhaftungen seiner Anhänger sowie die heftig umstrittene Verlängerung des Urnengangs um einen weiteren dritten Tag. Die PEC lehnte jedoch alle Beschwerden kategorisch ab. Mitglieder von Tamarud, der Organisation, die 2013 mit einer Unterschriftensammlung maßgeblich Mursis Sturz vorangetrieben hatte, reisten in ihre Wahlkreise und gaben vor laufenden Kameras ihre Stimme ab. Wahlwerbung ist in Wahllokalen in Ägypten strikt verboten, dennoch gaben Tamarud-Mitglieder in Wahllokalen Interviews für TV-Sender und riefen zur Wahl el-Sisis auf. Tamarud gilt als militärnah und hatte schon Anfang 2013 enge Kontakte zum Militär. Dieses ließ Tamarud gewähren, war doch die Anti-Mursi-Kampagne ein geeignetes Mittel sich der Bruderschaft vorzeitig zu entledigen. Der Massenaufstand gegen Mursi gilt daher als vom geschickt agierenden Militär inszeniert oder aktiv vorangetrieben.
Trotz derartiger Einwände bescheinigte die Wahlbeobachtermission der Europäischen Union (EU EOM) dem Urnengang „im Rahmen der Gesetze ausgeführt worden“ zu sein, auch wenn die EOM dessen Umfeld und deren Verlängerung kritisierte. Letztlich hat die EU der Wahl jedoch die von Regierung und den Machthaber aus dem Militär gewünschte Legitimität zugesprochen. Kritik an den offensichtlich manipulierten Zahlen zur Wahlbeteiligung und eine adäquate Thematisierung der fragwürdigen Immunisierung der PEC durch ein Dekret von Interimspräsident Adli Mansour suchte man in Stellungsnahmen der EOM vergeblich. Die EU habe mit der Entscheidung zur Durchführung der Mission dem unfairen und unfreien Wahlprozess ein erhebliches Maß an externer Legitimität verliehen, schreiben Lars Brozus und Stephan Roll in der ZEIT. Ägypten kann vorerst mit politischer Stabilität rechnen, schließlich gilt el-Sisi als Kandidat des Militärs, das mit seinem erneuten Griff nach direkter politischer Macht die alte Ordnung restaurieren konnte. Doch bleibt fraglich, ob el-Sisi fähig ist das Land langfristig zu befrieden. Ägyptens wirtschaftliche und soziale Probleme wird er mit nationalistischer Rhetorik und Dämonisierung der Muslimbrüder allein nicht lösen können.
Offizielle Zahlen zur Wahlbeteiligung umstritten
Rund 54 Millionen Wahlberechtigte waren an die Urnen gerufen, doch blieb die Wahlbeteiligung gering. Die Interimsregierung hatte vor Beginn der Abstimmung ebenso wie Ägyptens Staatsrundfunk und das Gros der Privatpresse massiv für eine hohe Wahlbeteiligung geworben, doch blieben viele Wahlberechtigte aus Frust über die unabwendbare Installation eines feststehenden Wahlsiegers den Urnen fern. Für Viele war el-Sisis Wahl jedoch vor allem der Ruf nach Stabilität, eine hohe Zustimmung für el-Sisi war daher erwartet worden.
Die Regierung ließ nichts unversucht die Menschen zur Stimmabgabe zu bewegen, ist die Wahlbeteiligung schließlich aufgrund des praktisch bereits im Vorfeld feststehenden Siegers der wichtigste Gradmesser für die Legitimität des neuen Staatspräsidenten. Das PEC verlängerte daher kurzfristig die Öffnungszeiten für Wahllokale, erklärte den zweiten Wahltag zum Feiertag und erweiterte den eigentlich nur für den 26. und 27. Mai terminierten Urnengang schließlich um einen weiteren dritten Tag. Die Regierung ging gar so weit mit Verweis auf das Wahlgesetz jeder Person, die nicht gewählt habe, eine Strafe in Höhe von rund 50 Euro anzudrohen. Offiziell erreichte die Wahlbeteiligung 47,5%. Die Zahlen dürften stark gefälscht worden sein. Lediglich am frühen Morgen des ersten Wahltages bildeten sich Schlangen vor Wahllokalen, die Beteiligung nahm bereits im Laufe des ersten Tages massiv ab. Andere Angaben liegen zwischen 7,5% und 28%. Auch Sabahi zweifelte die vom PEC genannten Zahlen an. Bei der Präsidentschaftswahl 2012 hatten in der ersten Runde noch rund 46% abgestimmt, bei der Stichwahl, die Mursi knapp gewann, waren es rund 51%.
Juristische Rahmenbedingungen und politischer Kontext des Urnengangs
Mit der Wahl Abdel Fattah el-Sisis verfügt Ägyptens Militärapparat erstmals seit dem Sturz Hosni Mubaraks wieder über einen partiell demokratisch legitimierten Präsidenten. Mubaraks Nachfolger Hussein Tantawi war ebenso wenig demokratisch legitimiert wie der seit dem 3. Juli 2013 amtierende Übergangspräsident Adli Mansour. Dennoch ist die rechtliche Grundlage für die Wahl el-Sisis juristisch umstritten. Die am 18. Januar 2014 in einem Referendum angenommene neue Verfassung Ägyptens ist neben dem Präsidialdekret Mansours vom 8. Juli 2013, das einen Fahrplan für die Übergangsphase formuliert, die Rechtsgrundlage für die Wahlen, doch ist diese Verfassung keineswegs demokratisch verfasstworden. Die mit dem Entwerfen der Verfassung beauftragte verfassungsgebende Versammlung war von Mansour ernannt worden. Mansour war am 3. Juli 2013 von el-Sisi, damals Chef des Obersten Militärrat (SCAF), dem höchsten Armeegremium und Ägyptens faktischem Schattenkabinett, als Präsident eingesetzt und nie demokratisch gewählt worden.
Zwar wurde die Verfassung beim Referendum mit rund 98% bestätigt, doch entbehrte das politische Umfeld des Urnengangs jedweder demokratischer Grundlage. Ägypten hatte zum Zeitpunkt der Abstimmung eine turbulente innenpolitische Phase hinter sich. Auf Mursis Absetzung und die Installation Mansours als Staatspräsident folgten monatelange Proteste der Muslimbrüder, die blutige Auflösung ihrer Protestcamps in Kairo und Giza und ein dreimonatiger Ausnahmezustand. Innen- und Verteidigungsministerium gingen seit Ausrufung des Notstandes massiv gegen die Bruderschaft vor, verhafteten tausende Mitglieder und Anhänger der Organisation und weiteten ihr repressives Vorgehen rasch auf die säkulare Opposition aus. In diesem politisch angespannten Klima installierte Mansour die verfassungsgebende Versammlung. Die vom Staat geführte Kampagne für deren Annahme setzte gezielt auf Dämonisierung der Muslimbruderschaft im Kontext des Anti-Terror-Kampfes. Die Bruderschaft wurde fortan mit radikalislamistischen Organisationen gleichgesetzt, auch wenn es keinerlei Beweise für ihre direkte Verwicklung in die Anschläge gab. Die Muslimbruderschaft, ihr politische Arm, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP) und die Regierung Mursi bestritten konsequent mit islamistisch motivierten Anschlägen in Verbindung zu stehen. Dennoch setzte Mursi konsequent auf Allianzen mit salafistischen Gruppierungen. Zahlreiche Vertreter liberaler Parteien, aber auch linker Aktivisten, warfen Mursi immer wieder vor diesen Gruppen zu viel Raum zugestanden zu haben. Reuters berichtete der Bruderschaft drohe der Verlust der Kontrolle über ihre Jugend. Im Kontext der politischen Verfolgung von Aktivisten aus ihren Reihen hätten sich Teile ihrer Jugendgruppen radikalisiert und würden vermehrt für ein gewalttätiges Vorgehen gegen den Staat plädieren.
Nach Annahme der Verfassung erließ Mansour im März 2014 ein Dekret, dass mit Bezug auf Ägyptens neue Verfassung Regeln für die geplante Präsidentschaftwahl festlegte. Wenig später verabschiedete Mansour ein umstrittenes zweites Dekret, das Entscheidungen der PEC für juristisch unantastbarerklärte. Die streitbare Immunisierung der PEC sorgte für heftige Kritik, das Dekret blieb jedoch unverändert in Kraft. Die Bewegung des 6. April war die einzige politische Kraft am Nil, die die Präsidentschaftswahl aus verfassungsrechtlichen Gründen boykottierte. Führende Mitglieder der Organisation betonten das Dekret verstoße gegen Artikel 97 der neuen Verfassung, der die Immunisierung von Verwaltungsentscheidungen vor gerichtlicher Aufsicht explizit verbietet. Nach Ansicht des 6. April ist die jüngste Präsidentschaftswahl daher verfassungswidrig.
Umstrittene Performance der EU-Wahlbeobachtermission
Erstmals besuchte eine offizielle EU-Beobachtermission Ägypten. Die EOM stand jedoch kurz vor vor dem Scheitern, nachdem Kairos Flughafensicherheit die Freigabe für technische Ausrüstung verweigerte. Die EU verkündete daraufhin, die EOM zu einem Wahlbeurteilungsteam zu degradieren. Einen Tag später erfolgte die Freigabe für die Ausrüstung und Chefbeobachter Mario David erklärte, die EOM könne doch wie geplant landesweit stattfinden, nachdem die EU noch kurz zuvor erklärt hatte, der Zeitrahmen für eine vollwertige Mission sei bereits zu eng bemessen. Eine plausible Erklärung für diesen Sinneswandel blieb sie schuldig.
Fraglich bleibt zudem welchen Zweck die EU der Beobachtermission zuschreibt. Im Vorfeld hatte die EU EOM erklärt sich nicht in den Wahlprozess einmischen und weder den Wahlgang noch die Resultate legitimieren zu wollen. Eine erste Stellungsnahme der EU EOM nach dem Urnengang weist jedoch daraufhin, dass es der EU durchaus darum geht, der Wahl el-Sisis eine gewisse Legitimität zu verleihen, schließlich ignorierte die EOM zahlreiche Unregelmäßigkeiten während der Wahl ebenso wie strittige Entscheidungen der PEC. Die EU hat bereits in der Vergangenheit Beobachtermissionen genutzt, um umstrittenen Urnengängen einen legitimen Anstrich zu geben. „Die Einladung der ägyptischen Behörden an die EU, eine große Mission zu entsenden, könnte angesichts mangelnder Unterstützung für el-Sisi durchaus von Befürchtungen vor einer schwachen Wahlbeteiligung geleitet gewesen sein. Umso wichtiger ist aus Sicht des Regimes die externe Legitimierung durch die EU. Sie kann die mangelnde interne Legitimierung aufwiegen,“ so Brozus und Roll in ZEIT Online.
Im Gegensatz zu den zweifelhaften Stellungsnahmen der EU EOM zur Präsidentschaftswahl am Nil legte die US-Menschenrechtsorganisation Democracy International (DI) ein glaubhafteres Positionspapier zu den ersten Ergebnissen des Urnengangs vor. DI bezeichnete darin das politische Umfeld der Wahl als “repressiv” und kritisierte neben der Verlängerung der Abstimmung das umstrittene Protestgesetz sowie die einseitige und parteiische Medienberichterstattung zugunsten el-Sisis. Auch das Carter Center hatte Wahlbeobachter entsandt, kritisierte das angespannte politische Klima und forderte einen inklusiven politischen Prozess.
Boykottkampagnen bleiben leise
Während sich zahlreiche oppositionelle Parteien aus dem liberalen und linken Lager der Kampagne Sabahis angeschlossen hatten, boykottierte neben der NASLauch die Partei Starkes Ägypten(Misr al-Qaweya) des Muslimbrüder-Abweichlers und Präsidentschaftskandidaten von 2012, Abdel Moneim Abu Fotouh die Wahl. Er bezeichnete den Wahlgang als „Farce“, während die gerichtlich verbotene liberale Jugendbewegung des 6. April als einzige politische Kraft am Nil die Abstimmung aus verfassungsrechtlichen Gründen boykottierte. In einer Stellungsnahme der Gruppeheißt es, die Wahl sei ein theatralisches Spiel zur Krönung el-Sisis, der Ägypten de facto bereits regieren würde. Die Demokratische Front, eine Abspaltung des 6. April, betonte, sie überlasse ihren Mitgliedern die Entscheidung für Sabahi zu stimmen oder den Urnengang zu boykottierten.
6. April und Demokratische Front waren im April in einem fragwürdigen Prozess wegen Spionagevorwürfen verboten worden. Beide Gruppen, die Revolutionäre Sozialisten und andere politische Kräfte hatten sich vor der Wahl zu einer gemeinsamen Kampagne zusammengeschlossen, die el-Sisis Sprung an die Staatsspitze vehement ablehnt. Einige der beteiligten Gruppen riefen zum Wahlboykott auf, andere schlossen sich der Sabahi-Kampagne an. Trotz unterschiedlicher Strategien im Umgang mit dem Wahlgang hoffen die beteiligten Kräften, Aufmerksamkeit für el-Sisis Rolle als Wegbereiter der Konterrevolution zu erregen.
„Demokratie im Nahen Osten“ – Abdel Fattah el-Sisi
Am 7. Juni wurde Ägyptens neuer Präsident el-Sisi offiziell vereidigt. Er gilt als Militärkandidat und Vertreter des alten Regimes, doch wofür steht der Ex-Armeechef und welche politischen Ziele verfolgt der 59 jährige? El-Sisis Wahlkampagne und seine Abhandlung „Democracy in the Middle East“ sind mehr als aufschlussreich für eine Bewertung seiner politischen Ausrichtung. Als ehemaliger Chef des Militärgeheimdienstes gehörte er schon vor der Revolution zum engeren Führungszirkel der Armee und dürfte auch als Staatschef deren Einfluss auf die politische Sphäre Ägyptens wahren. Er wurde am 12. August 2012 vom damals regierenden Mursi zum Verteidigungsminister und Armeechef ernannt. El-Sisi gilt als konservativ und religiös, was Mursi dazu bewegt haben dürfte el-Sisi zum jüngsten Mitglied des SCAF zu berufen und ihn schließlich an dessen Spitze zu installieren. Mursis Strategie einen Konservativen mit islamistischen Tendenzen als Armeevertreter in die Regierung zu berufen erschien aus seiner Sicht die beste Wahl zu sein. Doch ist Ägyptens Militär für seine Muslimbrüder-feindlich Haltung bekannt. El-Sisi war hier offenbar keine Ausnahme, wie bereits seine 2006 am US Army College in Pennsylvania verfassten Abhandlung „Democracy in the Middle East“ zeigt.
In dem 11-seitigen Essay befasst er sich mit Herausforderungen und Risiken einer demokratisch geführten Regierungsform im Nahen Osten, der er grundsätzlich skeptisch gegenübersteht. Fragmente und Leitmotive des Textes tauchten wiederholt in seiner Wahlkampagne auf, was den Schluss zulässt, dass die Inhalte des Papiers durchaus ernst zu nehmen sind. So betont el-Sisi der Ölreichtum der Region, der Nahost-Konflikt und die Bedeutung des Suez-Kanals für den Westen seien wichtige Gründe für Westmächte in der Region Interessenpolitik zu betreiben, die er als hinderlich für demokratische Reformen ansieht. Demokratie könne erst dann erfolgreich in Gesellschaften des Nahen Ostens Fuß fassen, wenn diese Probleme gelöst seien. Aufbauend auf dieser These warnt er davor zu schnell demokratische Reformen zu implementieren. Dies müsse in „beständiger und kontrollierter Art“ geschehen und könne Generationen dauern. Aufschlussreich ist el-Sisis Sicht auf die Gefahr, die von aufstrebenden staatsfernen Mächten für die politische Sphäre in der Region ausgeht; eine Andeutung auf den Aufstieg der Muslimbrüder in Ägypten und anderer islamistischer Gruppen der Region. Er schreibt, die Polizei- und Armeeapparate seien den Regierungsparteien verpflichtet und könnten aufstrebenden Mächten die Gefolgschaft verweigern, sollten diese Regierungsverantwortung übernehmen.Genau dieses Szenario hat sich seit Dezember 2012 in Ägypten abgespielt, als das Militär die zunehmenden Oppositionsproteste als Anlass nahm, Befehle der Mursi-Regierung zu verweigern sowie nach und nach den Sturz der im Militärestablishment verhassten Bruderschaft vorzubereiten und aktiv voranzutreiben.
Der Regime-Kandidat und sichere Wahlsieger – Abdel Fattah el-Sisi
Fragmente dieser Abhandlung tauchten in el-Sisis Wahlkampagne wieder auf. Immer wieder bediente er in Interviews das Bild einer demokratieunfähigen ägyptischen Gesellschaft. Zwei Wochen vor der Wahlsagte er, es würde 20 bis 25 Jahre oder noch länger dauern, bis das Land eine funktionierende Demokratie hervor bringen würde. Dies wiederholte er während des Wahlkampfes mehrfach. Während seiner Wahlkampagne weigerte sich el-Sisi mehrfach, sein Programm näher zu erläutern. Dies begründete er mit einer angeblichen Gefahr für die „nationale Sicherheit“, eine Stellungsnahme, die el-Sisis zweifelhaftes Demokratieverständnis illustriert. Weitere Äußerungen zeigen, dass politische Transparenz und Grundrechtsverständnis ebenso wenig zu seinen Leitmotiven gehören. In einem Interview verteidigte er das umstrittene Protestgesetz und sagte, unverantwortliches Protestieren könne das Land schädigen, selbst wenn gewaltfrei demonstriert werde. Während er auf seiner Wahlkampfwebsitebetont, der Armee keinen politischen Einfluss zugestehen zu wollen, sagte er später, es sei „gefährlich“ die Armee betreffende Aspekte öffentlich zu diskutieren.
Selbstredend versprach el-Sisi im Wahlkampf Reformen, Investitionsprogramme für den Bildungssektor und die Wirtschaft sowie ein Austeritätsprogrammzur fiskalpolitischen Stabilisierung des Landes. Seine Ideen zur Finanzierung dieser Investitionsprogramme muten jedoch abenteuerlich an. Die Finanzmittel zu deren Realisierung sollen mit Überweisungen der im Ausland lebenden ägyptischen Staatsbürger, ausländischer Direktinvestitionen sowie Zuwendungen befreundeter Staaten wie Saudi-Arabien gedeckt werden. El-Sisis Lösungsvorschlag zu Überwindung der Energiekrise: Strom sparen und Energiesparlampen. Im Wahlkampf setzte el-Sisi aber meist auf den Sicherheitsdiskurs und betonte wiederholt, das Land müsse den Terrorismus besiegen. Die Muslimbrüder würden unter seiner Regentschaft „nicht mehr existieren“. Die Dämonisierung der verbotenen Organisation war der wichtigste Pfeiler seiner Kampagne. Bemerkenswert war, dass el-Sisi im Wahlkampf nicht ein einziges Mal öffentlich auftrat und sich der Wählerschaft nur medial stellte.
El-Sisi konnte sich schon im Vorfeld des Urnengangs eine breite politische Unterstützung sichern. Neben der liberalen Partei der Freien Ägypterund anderer wirtschaftsliberaler Kräfte des Landes, genoss el-Sisi die Rückdeckung der salafistischen Partei Das Licht, die gemeinsam mit Mursis FJP zwei Jahre lang das politische Geschehen in Ägypten bestimmte und kurz vor dessen Sturz die Seiten gewechselt hatte. Auch der staatlich kontrollierte Gewerkschaftsverband ETUFschloss sich el-Sisis Kampagne an, während sich der unabhängige Gewerkschaftsbund (EFITU) und der Ägyptische Demokratische Arbeiterbund (EDLC) neutral positionierten.
El-Sisis Wahlkampagne gab nach eigenen Angaben 1,2 Millionen Euro aus, während Hamdeen Sabahigrade mal 100000 Euro in den landesweiten Wahlkampf steckte. Neben einseitiger Berichterstattung in Staats- und Privatmedien zugunsten el-Sisis war das Rennen um Ägyptens Präsidentenamt von Anfang an unfair. Bemerkenswert war der Imagewandel, den el-Sisi während des Wahlkampfes vollzog.
Nach dem 3. Juli 2014 tauchten überall im Land Plakate el-Sisis auf, er war omnipräsent in der Öffentlichkeit. Auf den Bildern präsentierte sich el-Sisi als starker Führer. Er war zu sehen in Militäruniform, mit Sonnenbrille, der Blick zukunftsweisend zur Seite gewandt,“ sagt Sarah Wessel, Doktorandin am Fachbereich Politik der Universität Hamburg und langjährige Beobachterin der politischen Szene Ägyptens. „In seiner Wahlkampagne jedoch kehrte er das Bild um. Die Uniform wurde durch zivile Kleidung ersetzt. Auf offiziellen Wahlplakaten gibt er sich betont freundlich, lächelnd und den Betrachtern zugewandt. Dadurch schafft er eine doppelte Fiktion: die des starken Führers, der durch das Bild des volksnahen zivilen Präsident ergänzt wird“, so Wessel. El-Sisi musste sich das Image eines zivilen Kandidaten geben, ist es aktiven Mitgliedern der Armee doch gesetzlich verboten für Ämter zu kandidieren. Am 26. März 2014 war el-Sisi vom Amt des Verteidigungsministers und als Militärchef zurückgetreten, um die Voraussetzung für seine Kandidatur zu erfüllen. Faktisch handelt es sich dabei jedoch um Symbolik. Wie seine aus den Reihen der Armee stammenden Vorgänger wird auch el-Sisi die Interessen der Streitkräfte vertreten. Ägyptens Militär ist und bleibt die einflussreichste politische Institution im Land und hat mit der Inthronisierung el-Sisis im höchsten Staatsamt nach Mubaraks Sturz wieder einen demokratisch legitimierten Vertreter im Präsidentenpalast in Kairo installieren können.
Hamdeen Sabahi – Strategische oder hoffnungslose Gegenkandidatur?
El-Sisis aussichtsloser Gegenkandidat Hamdeen Sabahi wurde von vielen Seiten für seine Teilnahme an der jüngsten Wahlfarce am Nil kritisiert, dennoch entschied sich der populäre Linkspolitiker anzutreten. Schon 2012 stand Sabahi im Rennen um Ägyptens höchstes Staatsamt und verpasste damals überraschend knapp die Stichwahl. Seither ist er zu einer der wichtigsten Oppositionsfiguren aufgestiegen. Während el-Sisi einen virtuellen Wahlkampf führte, suchte Sabahi den Kontakt zur Basis und führte eine volksnahe Kampagne. Er forderte eine zivile Kontrolle der Armee, kritisierte das repressive Vorgehen des Sicherheitsapparates gegen Streiks und Studentenproteste und pochte auf eine Reform des Innenministerium sowie eine Revision des umstrittenen Protestgesetzes: Forderungen, die ihm die Unterstützung zahlreicher revolutionärer und linker Kräfte einbrachte. Neben seiner eigenen Partei riefen auch die Verfassungspartei (Hizb el-Dostour) und die Sozialistische Volksallianz dazu auf Sabahi zu wählen. El-Dostour-Sprecher Khaled Daoud sagte die massive Medienkampagne zugunsten el-Sisis habe zahlreiche Kandidaten davon abgehalten anzutreten, es sei daher umso wichtiger am Wahlgang teilzunehmen und dem Regimekandidaten Paroli zu bieten. Mohamed Saleh, führender Funktionär der Sozialistischen Volksallianz, betonte man sei sich über el-Sisis Wahlsieg bewusst, dennoch könne die im jüngsten Wahlkampf vollzogene Mobilisierung der Basis zu einem späteren Zeitpunkt wichtig werden. Sabahis Kampagne solle vor allem Aufmerksamkeit für sein politisches Programm schaffen.
Status Quo am Nil – Ägyptens Militär bleibt am Ruder
El-Sisis Wahl zum neuen Präsidenten hat die Uhren am Nil zurückgedreht. Mit dem Ex-SCAF-Mitglied verfügt die Armee nach dem Sturz Mubaraks erstmals wieder über einen demokratisch legitimierten Vertreter im Präsidentenamt. Da el-Sisi im Wahlkampf Ägyptens Gesellschaft die Eignung absprach demokratisch regiert zu werden, repressive Instrumente wie das Protestgesetz erhalten will und wirtschaftlich auf altbekannte Rezepte setzt, ist zu erwarten, das Ägyptens Militär seinen politischen Einfluss unter el-Sisi weiter ausweiten wird. Das Militär kann damit die in den letzten drei Jahren in Frage gestellte politische Ordnung am Nil vorerst stabilisieren und auf die Rückendeckung der EU zählen. Ansätze der Demokratisierung von Ägyptens politischer Sphäre sind mit der ernüchternden Wahl el-Sisis zum Staatspräsidenten zunächst ausgebremst. Kurzfristig wird sich Ägypten politisch stabilisieren. El-Sisi kenne sich mit den Staatsinstitutionen aus, diese werden vom ersten Tag an bereit sein mit ihm zu kooperieren. Daher wird El Sisi auch am ehesten zugetraut innenpolitisch Stabilität zu schaffen, sagt Abdulbar Zahran von der Partei der Freien Ägypter. Dennoch ist eine weitere Eruption der sozial, politisch und wirtschaftlich angespannten Gemengelage in der verarmten Gesellschaft Ägyptens nur eine Frage der Zeit. El-Sisis Griff nach der politischen Macht vollzog sich vor allem im Kontext nationalistischer Propaganda und der Dämonisierung der zur „Terrorvereinigung“ erklärten und vorerst politisch kalt gestellten Bruderschaft. Doch wird sich el-Sisi daran messen lassen müssen, ob er die sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes in den Griff bekommt; eine Mammutaufgabe, der er vor dem Hintergrund seiner inexistenten politischen Vision schlicht nicht gewachsen zu sein scheint.
© Sofian Philip Naceur 2014