Algeriens Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika ist angezählt. Seit Beginn seiner dritten Amtszeit 2009 galt er zunehmend als machtlose Marionette in den Händen des im Hintergrund regierenden Geheimdienst- und Militärapparates. Dennoch will der gesundheitlich schwer angeschlagene 77 jährige Staatschef bei der im April anstehenden Präsidentschaftswahl antreten. „Bouteflika will ein viertes Mandat. Er ist besessen davon an der Macht zu sterben“, meint Saïd Sadi, Ex-Chef des oppositionellen liberalen Rassemblement pour la Culture et la Démocratie. Bouteflika trat 1999 an, um Bürgerkrieg und Terror zu beenden. Der „Konsenskandidat“ wollte das Land vereinen und die ruhende Allianz zwischen Armee und politischem Establishment restaurieren. Seither steht Bouteflika unangefochten an der Staatsspitze und ist trotz heftiger Flügelkämpfe designierter Kandidat seiner Partei, der Front de Libération National (FLN), für die Wahl im April. Doch wer ist dieser Mann und wie viel Macht hat er wirklich im nebulösen vom Militär dominierten Machtgefüge Algeriens? (erschienen in Die Wochenzeitung vom 6.2.2014).
Bouteflika steht schon seit der Unabhängigkeit Algeriens 1962 auf der politischen Bühne in Algier. Als enger Verbündeter Houari Boumediénnes wurde er unter Staatspräsident Ahmed Ben Bella 1963 Außenminister und stützte Boumediénnes Staatsstreich gegen Ben Bella 1965. Boumediénne sah in der Armee die einzig legitime Vertreterin der Revolution und legte bereits damals das Fundament für die bis heute währende Macht des Militär. Unter seiner Regentschaft bauten Militär und Geheimdienst ihren politischen Einfluss massiv aus.
Nach Boumediénnes Tod 1979 galt Bouteflika als Favorit auf das Amt, doch das Militär setzte mit Colonel Chedli Benjedid einen der Ihren als Staatschef durch. Benjedid brach mit Boumediénnes Staatssozialismus und liberalisierte die Wirtschaft. Die Korruption uferte aus. Bouteflika wurde 1981 aus der FLN verbannt und floh ins Exil. Nach der Massenrevolte 1988 kehrte er zurück und übernahm wieder Leitungsposten in der FLN. Doch die Partei hatte abgewirtschaftet und verlor die Macht an die islamistische Front Islamique du Salut, die 1991 die Parlamentswahl gewann. Nach dem Militärputsch 1992 glitt das Land in einen blutigen Bürgerkrieg, der erst mit Bouteflikas Amtsantritt 1999 ein Ende fand. Die FLN kehrte schwungvoll auf das politische Parkett zurück und dient dem mächtigen Militärapparat seither als ziviles Aushängeschild. Bouteflika – Staatspräsident, Verteidigungsminister und FLN-Chef in Personalunion und das Feigenblatt der regierenden Militärs – genoss zu Beginn seiner Amtszeit hohe Popularität. Ihm wurde das Kriegsende zugute gehalten. Doch auch er hat die Korruption nicht eingedämmt, im Gegenteil. „Stehlen ist besser als töten“, sagt Salah Debouz von der Algerischen Liga zur Verteidigung der Menschenrechte und bringt das Dilemma damit auf den Punkt. Heute präsentieren sich Militär und FLN als unverzichtbares Bollwerk gegen den radikalen Islamismus und Terrorismus und das Regime weiß; die Menschen ziehen die Korruption dem Bombenterror vor.
Heute, 15 Jahre nach Ende des Bürgerkrieges, hat sich das Regime stabilisiert. Der Funke des arabischen Frühlings sprang nicht auf Algerien über. Ein Grund: Algerien, einer der größten Öl- und Gaslieferanten Europas, schwimmt im Geld. Das Land konnte in Bouteflikas erster Amtszeit fast seine gesamten Auslandsschulden tilgen und bis heute 193 Milliarden US-Dollar Devisenreserven anhäufen. Erlöse aus dem Öl- und Gasexport pumpt das Regime bei Bedarf in die Gesellschaft, erhöht Subventionen auf Benzin und Lebensmittel und erkauft sich politische Ruhe. Aber es rumort im Land. Proteste gegen Korruption, Arbeitslosigkeit und die Folterpraxis der Polizei sind an der Tagesordnung, doch ein Aufstand wie 1988 oder 2011 in Tunesien und Ägypten liegt weit entfernt. Kosmetische Reformen haben dem Regime bisher ausgereicht die Kontrolle zu behalten. „Auch wenn der Ausnahmezustand seit 2011 nicht mehr gilt, in Menschenrechtsfragen hat sich nichts geändert, es wird immer noch gefoltert“, sagt Youcef Benbrahim, Vize-Chef von Amnesty International in Algerien.
Doch das Regime sorgt vor und rüstet auf. Geschickt präsentiert sich Algier als unverzichtbarer Energielieferant Europas und Bollwerk gegen den Terror und gehört seit Jahren zum festen Kundenstamm US-amerikanischer und europäischer Rüstungsunternehmen. Seit Jahren leistet sich Algerien den mit Abstand größten Rüstungsetat Afrikas. Das neue Budget sprengt jedoch alle Rekorde. Fast 20 Milliarden US-Dollar, fast zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts, sind 2014 für Landesverteidigung und innere Sicherheit vorgesehen. Taktische Bomber und Militärhelikopter aus Russland, Korvetten aus China und ein zehn Milliarden Dollar schwerer Rüstungsdeal mit Deutschland, der den Bau einen Panzerfabrik und einer U-Boot-Werft in Algerien sowie die Lieferung von Fregatten aus dem Hause Thyssen-Krupp, beinhaltet, sind die letzten zweifelhaften Deals der Machthaber.
Das Regime in Algier hat den islamistischen Terror und seine geopolitische Lage im Hinblick auf Europas Energieversorgung geschickt genutzt. Die größte Gefahr für das Regime lauert im Inneren. Bouteflikas Popularität in der Bevölkerung sinkt, doch in seiner Amtszeit ist der Terror aus den Städten verschwunden. Das Regime ist korrupt und regiert autoritär, doch es kann sich politische Ruhe erkaufen – fraglich ist nur wie lange noch.
Bouteflikas Wiederwahl im April scheint nur noch reine Formsache zu sein, doch es rumort weiter in der FLN. Im August 2013 drückte er im FLN-Zentralkomitee trotz massiver Proteste aus den eigenen Reihen seinen Vertrauten Amar Saïdani als neuen FLN-Generalsekretär durch. Kurz darauf wechselte er 18 Minister im Kabinett aus und entledigte sich einiger Minister mit FLN-Parteibuch, die gegen Saïdani opponiert hatten und installierte mit Tayeb Belaiz und Tayeb Louh zwei Vertraute im Innen- und Justizministerium – beides Schlüsselposten für das operative Geschäft des Urnengangs im April. Doch der parteiinterne Machtkampf ist keinesfalls ausgestanden. Saïdani Wahl wird von seinen Gegnern weiterhin nicht anerkannt. Die Revolte gegen ihn und Bouteflika geht unvermindert weiter. Saïdani stellte Bouteflika zwar offiziell als FLN-Kandidaten für die Präsidentschaftswahl vor, doch hat sich dieser bisher nicht selbst zu seinen Ambitionen geäußert.
Daher könnte die Wahl eine überraschende Wende nehmen. Im Januar verkündete der ehemalige Premierminister und Ex-FLN-Generalsekretär Ali Benflis seine Kandidatur. Benflis trat schon 2004 gegen Bouteflika an und unterlag. Heute hat er Rückenwind. Abderahman Belayat, Wortführer der Saïdani-Gegner, verkündete seine Fraktion hätte zwei Drittel der Stimmen im FLN- Zentralkomitee hinter sich. Auch der den moderaten Islamisten nahe stehende Parteiflügel von Ex-FLN-Generalsekretär Abdelaziz Belkhadem stütze Benflis‘ Kandidatur. Salah Debouz glaubt derweil nicht an einen wirklichen Machtkampf in der FLN. „Die Leute glauben einzelne Fraktionen im Parteiapparat führen Machtkämpfe gegeneinander und sorgen somit dafür, dass keine Gruppe zu mächtig wird, doch das ist eine Illusion“, so Dabouz. Algeriens mächtiger Geheimdienst DRS (Département du Renseignement et la Sécurité) ziehe im Hintergrund die Fäden, der Machtkampf in der FLN sei für den Status Quo daher nebensächlich, sagt Debouz. Bouteflika werde antreten und die Wahl gewinnen.
Doch eine ganz andere Baustelle könnte dem amtierenden Staatschef noch ein Bein stellen. Nach einem Schlaganfall im April 2013 verbrachte Bouteflika fast drei Monate in einem französischen Militärspital. Sein Gesundheitszustand ist nach wie vor nebulös, die Spekulationen reißen nicht ab. Mitte Januar verweilte Bouteflika für einen 48stündigen angeblichen Routinecheck erneut in einem französischen Spital. Zudem ist er seit seiner Rückkehr nach Algier im Sommer 2013 kein einziges Mal öffentlich aufgetreten. Ali Benflis wittert seine Chance. Bekommt der Militärapparat um DRS-Chef Mediéne kalte Füße? Seine Unterstützung für Bouteflika birgt Risiken. Selbst wenn dieser einen Vizepräsidenten ernennen würde, der bei seinem frühzeitigen Tod eine reibungslosen Machtübergabe garantieren könnte, wäre Saïdani, der sich für diesen Posten bereits in Stellung bringt, angesichts der parteiinternen Querelen eine schlechte Wahl.
Auch die Chancen von Premierminister Abdelmalek Sellal sind fragwürdig, da auch dieser keineswegs auf die Rückendeckung der FLN zählen kann. Sollte es um Bouteflikas Gesundheit tatsächlich schlechter stehen, als die offiziellen Verlautbarungen glauben machen wollen, ist derzeit Ali Benflis der Kandidat, dem noch am ehesten zugetraut wird sich die Rückendeckung des Militärs zu sichern.
Algeriens blutiges Jahrzehnt
Im Oktober 1988 brachte der Volksaufstand gegen die Alleinherrschaft der seit 1962 regierenden Front de Libération National (FLN) das Regime zum Wanken und zwang die alte Garde zum Einlenken. Doch das „demokratische Experiment“ schlug fehl und spülte fast die Radikalislamisten der Front Islamique du Salut (FIS) nach ihren Sieg bei der ersten Runde der Parlamentswahlen 1991 an die Macht. Der Staatsstreich der Armee am 11. Januar 1992 gegen die bevorstehende Machtergreifung der FIS stürzte Algerien in einen Bürgerkrieg, der rund 150.000 Menschenleben forderte. Der radikale Flügel der FIS ging in den Untergrund, nachdem der Notstand verhängt wurde und das Militär die Jagd auf die Islamisten eröffnete. Der Terror der FIS stand der Brutalität der Armee in nichts nach. FLN und Militär nutzten die Lage geschickt. Während Land und Gesellschaft nach Putsch und Bürgerkrieg demoralisiert waren, festigte die politische Klasse ihre bis heute unangefochtene Stellung an der Macht. Algeriens Frühling war zu Ende, der Status Quo, die Herrschaft der Armee, restauriert. Der Wahlsieg der FIS war auch der Ruf nach einer neuen nicht durch Korruption vorbelasteten politischen Kraft. Das Regime hatte das Land in den Ruin gewirtschaftet und legitimierte seinen Herrschaftsanspruch bisher einzig aus dem Antikolonialkampf, doch forderte die Bevölkerung 1988 nachdrücklich ein Ende der Korruption und politische Freiheit. Der Terror der FIS und der Bürgerkrieg erlaubten es dem Regime mit dem Anti-Terror-Kampf ihre ideologische Basis zu erneuern. Seither präsentieren sich Armee und FLN als unverzichtbares Bollwerk gegen den Terrorismus. Dabei begann der Geheimdienst Département du Renseignement et la Sécurité (DRS) unter General Mohamed Mediéne, der grauen Eminenz des Landes, Mitte der 90er Jahre in großem Stile islamistische Zellen (GIA) zu unterwandern und zu steuern. Dutzende der GIA zugeschriebene Massaker an Zivilisten gehen auf das Konto des DRS, der damit Stimmung gegen die Islamisten machte. Ziel der Strategie war die Absicherung rüstungsrelevanter Unterstützung aus dem Westen und innenpolitische Rückendeckung im Anti-Terror-Kampf. Die vom DRS dirigierte Aufstandsbekämpfung erlaubte es ihm seinen politischen Einfluss auszuweiten. Heute ist der DRS die mächtigste Institution im Land und ein Staat im Staate.
© Sofian Philip Naceur 2014
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