Am 25. Januar 2011 versammelten sich zehntausende Menschen auf dem Tahrir-Platz im Herzen Kairos und anderen Teilen des Landes und forderten das Regime und seinen Polizei- und Militärapparat heraus. Es war der Anfang vom Ende der 30 jährigen autoritären Regentschaft Hosni Mubaraks. Stur klammerte er sich an die Macht, doch das im Hintergrund regierende Militär opferten seinen Kopf. 18 Tage später nahm Mubarak seinen Hut. Hunderttausende forderten den „Sturz des Regimes“ und ein Ende der politischen Repression. Teile von Ägyptens Mittelschicht wollte politische Freiheit, die marginalisierte und von jedweder politischer, wirtschaftlicher und sozialer Teilhabe ausgeschlossene Masse an verarmten Menschen auf dem Land und in den Slums von Kairo verlangte Brot und Respekt und den Sturz der Profiteure des neoliberalen Regimes (erschienen in Die Wochenzeitung am 30.1.2014).
Doch der zentrale Slogan der Revolution „Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit“ verblasst und ist abgelöst von einem Ruf nach Freiheit, einer exklusiven Freiheit für die Anhänger des alten Systems oder die Menschen, die auf die nationalistische Rhetorik von Übergangsregierung und Armeeführung hereingefallen sind. Zehntausende versammelten sich am 25. Januar auf dem Tahrir und feierten die Armee als Retter und Stabilisator Ägyptens. Der Hass vieler Menschen auf die Muslimbrüder und den aus ihren Reihen stammenden am 3. Juli 2013 vom Militär gestürzten Präsidenten Mohamed Mursi macht sie blind, blind für die vor Blut triefende Restaurierung der neuen alten Ordnung am Nil. Der dritte Jahrestag der Revolution geriet zur Farce. Auf dem Tahrir ließ sich die Armee als unverzichtbares Bollwerk gegen den Terrorismus feiern, während die Polizei nur einen Block entfernt eine Demonstration linksliberaler Gegner des aus der Asche der Revolution 2011 auferstandenen Militärregimes und der Muslimbrüder mit roher Gewalt auflösten. Die Bilanz des 25. Januar 2014: 64 tote Demonstranten landesweit, allein 58 davon durch den Einsatz scharfer Munition. Die meisten gehören zur Anhängerschaft der im Dezember von der Regierung zur „Terrorvereinigung“ erklärten Muslimbruderschaft.
Der Tahrir war das Symbol des Aufstandes gegen die alte Ordnung, ein Symbol für blutig erkämpfe Freiheit am Nil, auch wenn der Platz nur ein winziger verkürzter, aufgebauschter, aber symbolträchtiger Ausschnitt aus der Realität der ägyptischen Revolution war. Seit dem 3. Juli hat den Armee die Kreuzung im Herzen der Stadt besetzt. Versammlungen werden hier nur erlaubt, wenn sie der Armee huldigen und den alten neuen Machthabern nützlich erscheinen. Die alte Kader des Mubarak-Regimes nutzten die breite gesellschaftliche Ablehnung gegen die Muslimbrüder in Kooperation mit dem allmächtigen Militärapparat geschickt, um sich zurück auf die politische Bühne am Nil zu drängen. Heute reklamieren alte Weggefährten Mubaraks und die Streitkräfte die Revolution für sich. Das Regime vereinnahmt und missbraucht sie für ihre Zwecke.
Mubaraks Sturz brachte das System zum Wanken, aber nicht zu Fall. Die eiserne Faust des Militärapparates machte da weiter wo sie unter Mubaraks aufgehört hatte. Dennoch erlebte Ägyptens Zivilgesellschaft eine Blüte. Trotz anhaltender Polizeigewalt war die Angst vor dem Staatsapparat einer neuen Diskussionskultur gewichen. Während die Muslimbrüder nach Mubaraks Sturz überliefen und Hand in Hand mit dem Militär jeden regimekritischen Protest und die aufblühende unabhängige Streikbewegung verurteilten, starben weiter Demonstranten auf den Straßen. Auch während Mursis kurzer Amtszeit forderten Zehntausende ihre Rechte ein und ließen sich nicht einschüchtern. Heute ist der Mut vieler Menschen auf eine harte Probe gestellt, ihr Selbstbewusstsein bröckelt. „Die Revolution ist besiegt und verraten, wir haben verloren“, heißt es bei den Revolutionären Sozialisten. „Die Koalition aus Militär- und Polizeiapparat und der von der Politik des Regimes profitierenden Geschäftselite, die mit internationalen Konzernen kooperiert, ist zurück und zwar stärker als zuvor.“ Abdel Fattah El Sisi – Verteidigungsminister und vermutlich bald Staatschef am Nil – pries jüngst die Armee als „Schutzschild des Heimatlandes“ und bedient eine nationalistische Rhetorik, die jede Person des Landesverrats beschuldigt, die sich nicht dem Militär in die Arme wirft und von der vom Regime vorgegeben Linie abweicht.
Inzwischen wird auch die linksliberale Opposition von den auf einer nationalistischen Welle schwimmenden Machthabern mundtot gemacht und verfolgt. Ägyptens vor zwei Wochen in einem Referendum angenommene neue Verfassung ist die institutionalisierte Konterrevolution und Restaurierung der alten Ordnung. Das Militär hat mit der Bruderschaft und den im Sinai aktiven Islamisten willkommene Argumente parat ihre Machtfülle zu legitimieren und Rufe nach politischer Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und einer Reform von Staatsinstitutionen abzuschmettern. Ägyptens Militärregime hat Rückenwind und nutzt die Gunst der Stunde für die vollständige Restaurierung des alten sozioökonomischen und politischen Systems und die Konsolidierung einer mit neuem Anstrich versehenen militaristischen Autokratie am Nil.
© Sofian Philip Naceur 2014