Fast drei Jahre sind vergangen seit Ausbruch der ägyptischen Revolution im Januar 2011, die den langjährig despotisch regierenden Präsidenten Hosni Mubarak zu Fall brachte. Der Massenaufstand hat Land, Gesellschaft und Establishment aufgeweckt und die politische Kultur am Nil nachhaltig verändert. Andauernde Proteste, Streiks und die aufblühende Presse- und Kulturlandschaft ließen das Regime wanken. Der Frust über wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, politische Repression und Polizeigewalt war der Hoffnung gewichen die Stunde null nutzen und ein neues Ägypten aufbauen zu können. Die wichtigste Parole der Revolution – „Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit“ – ist bis heute nicht vergessen. Doch hat das Jahr 2013 das Land zurück auf den Boden der Tatsachen geholt. Die monatelange Protestwelle gegen die Muslimbrüder und Staatspräsident Mohamed Mursi, seine Absetzung und die blutige Räumung der Protestcamps der Muslimbrüder in Kairo und Giza haben der Konterrevolution, der Restaurierung der alten Ordnung und des gefürchteten Polizei- und Militärstaates, unfreiwillig den Weg geebnet. 2013 steht symbolisch für Aufstieg und Sturz der Bruderschaft, die noch Anfang 2013 auf dem Höhepunkt ihrer Macht stand. Die Opposition war zerstritten, keine politische Kraft stark genug alleine Wahlen für sich zu entscheiden. Doch die Stimmung sollte kippen. Nach dem Bombenanschlag vom 24. Dezember in Mansoura mit 16 Toten erklärte das Übergangskabinett die Organisation zur „terroristischen Vereinigung“. Derweil häufen sich Bombenanschläge im Nildelta und in Kairo. Der im Sinai wütende Krieg zwischen Sicherheitskräften und militanten Islamisten ist außer Kontrolle geraten. Ägypten stehen auch 2014 ungewisse Zeiten bevor (erschienen in Junge Welt am 2.1.2014).
Das Kalenderjahr 2013 endete wie es begann; mit einer hitzigen innenpolitischen Debatte über Ägyptens Verfassung. Die von Interimspräsident Adli Mansour ernannte verfassungsgebende Versammlung hat jüngst einen Entwurf für eine neue Verfassung vorgelegt. Mitte Januar 2014 soll das Dokument in einem Referendum verabschiedet werden. Erst im Dezember 2012 peitschte Mursi eine neue Verfassung durch die Institutionen und ließ das umstrittene Dokument per Referendum von Ägyptens Bevölkerung absegnen. Die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), der politische Arm der Bruderschaft, und die radikalislamistische salafistische Partei Das Licht hatten in der verfassungsgebenden Versammlung eine absolute Mehrheit und drückten der Verfassung trotz breiter Proteste der Opposition einen religiösen Stempel auf. Von den darauf folgenden Unruhen im Land im Dezember 2012 sollte sich der damals schon angezählte Präsident nicht mehr erholen. Mursi hatte mit seiner Kompromisslosigkeit endgültig sämtliche politische Kräfte gegen sich aufgebracht.
Im April lancierten aus der Mittelschicht stammende Gegner von Bruderschaft und Präsident die Tamarud-Kampagne (Arabisch für Rebellion), eine Unterschriftensammlung für Mursis Absetzung und vorgezogene Präsidentschaftswahlen. Der Kampagne schlossen sich schnell Parteien und Menschenrechtsgruppen an und formierten eine breite politische Front gegen die Regierung. Die Kampagne gipfelte in den Massenprotesten des 30. Juni. Als sich Mursi immer noch weigerte nachzugeben, intervenierte die Armee. Verteidigungsminister und Generalstabschef Abdelfattah El-Sisi trat am 3. Juli vor die Kameras und verkündete Mursis Absetzung. Führungskader von Bruderschaft und FJP wurden verhaftet, die erst im Dezember 2012 verabschiedete Verfassung außer Kraft gesetzt und eine Übergangsregierung installiert.
Mursis Anhänger zogen danach tagelang randalierend durch die Straßen und ließen sich in ihren beiden Protestlagern an der Moschee Rabaa Al-Adawija im Osten Kairos und an der Universität von Kairo nieder. Die mit engen Gefolgsleuten Mubaraks und armeetreuen Vertretern des säkularen politischen Spektrums gespickte Übergangsregierung war uneins über die Vorgehensweise mit den unliebsamen aber anhaltenden Protesten der Mursi-Anhängerschaft, doch die Falken setzten sich durch. Am 14. Juli stürmten Polizei und Staatssicherheit die Lager und machten die Camps dem Erdboden gleich. Beim schwersten Massaker am Nil seit der Revolution 2011 an der Rabaa Al-Adawija starben hunderte Protestler.
Nationalistische Rhetorik bedienend stellte sich das Gros der säkularen, liberalen und staatssozialistischen Opposition hinter Armee und Interimsregierung und stützte die Kampagne gegen die Muslimbrüder, die fortan pauschal nur noch als „Terroristen“ gebrandmarkt wurden – eine Steilvorlage für die 85 Jahre alte islamistische Organisation sich als Opfer von Staatsgewalt zu präsentieren und ihr Martyrium gegen Armee und Staat wiederaufleben zu lassen. Bis heute finden regelmäßig Proteste der Bruderschaft gegen den „Putsch“ statt, zwar mit deutlich weniger Zulauf, aber die Organisation ist und bleibt eine Realität am Nil. Langfristig werden Dämonisierung und Inhaftierung ihrer Mitglieder dem Land nicht helfen die reaktionäre Muslimbruderschaft zurückzudrängen und ihren Einfluss vor allem auf dem Land einzudämmen.
Bis heute diskutieren die Menschen darüber wie die Ereignisse des Sommers zu nennen und einzuordnen sind. War es eine zweite Revolution, wie es Übergangsregierung und Armeeanhänger glauben machen wollen? Ein Staatsstreich der Armee oder eine Konterrevolution? Sämtliche Begriffe werden der komplexen politischen Gemengelage nicht gerecht. Dennoch hat sich der über Jahrzehnte unter Mubarak gewachsene Staats-, Bürokratie- und Sicherheitsapparat, der im Großen und Ganzen seit der Revolution 2011 intakt geblieben ist, gewaltsam der unliebsamen Bruderschaft entledigt und nutzt die Gunst der Stunde den alten Polizei- und Militärstaat ideologisch und institutionell zu rehabilitieren.
Eine Schlüsselfigur in diesem Prozess ist zweifelsohne der amtierende Innenminister Mohamed Ibrahim. Im Januar 2013 feuerte Mursi Innenminister Ahmed Gamal und ersetzte ihn mit Ibrahim, einem der wenigen Kabinettsmitglieder, die nach Mursis Absetzung seinen Posten behielt. Und dafür gab es gute Gründe. Die treibende Kraft hinter dem Sturz der islamistischen Regierung Mursi war neben den Generälen das Innenministerium, das jahrelang politische Dissidenten ausspähte, verfolgte und inhaftierte. Die fast schon traditionelle Feindschaft zwischen Geheimdienst- und Polizeiapparat und der Muslimbruderschaft war während Mursis Präsidentschaft auf Eis gelegt, verschafft sich jedoch seit seinem Sturz wieder Spielraum. Der gefürchtete 2011 aufgelöste Inlandsgeheimdienst Mabahith Amn Al-Dowla, die Staatssicherheit, wurde unter altem Namen neu installiert und kommt seither wieder seinen traditionellen Aufgaben nach: Verfolgung politischer Dissidenten. Zunächst lag ihr Fokus auf der Bruderschaft. Seit sich Proteste linksliberaler gewerkschaftsnaher Gruppen wieder vermehrt gegen Armee und Interimsregime richten, sind im November wieder linksliberale Aktivisten und Menschenrechtler ins Visier geraten. Zwar ist der Ausnahmezustand seit November 2013 aufgehoben, doch auf Grundlage des neuen Protestgesetzes geht der Staat rigoros gegen regierungs- und armeekritische Opponenten vor.
Die Muslimbrüder spielen vorerst politisch keine Rolle, stattdessen hat sich die politische Kaste neu formiert. Innen- und Verteidigungsministerium restaurierten geschickt das Regime und holten die alte neoliberale Garde zurück auf Ägyptens politische Bühne – jedoch mit revolutionärem Anstrich. Die Einbindung revolutionärer Figuren soll Gemüter beruhigen. Doch mit Nationalismus und Armeehörigkeit wird das neue alte Regime Ägyptens größte Probleme nicht lösen können.
© Sofian Philip Naceur 2014