Die Sinai-Halbinsel, Ägyptens östlichste Provinz an der Grenze zu Israel, ist bekannt für seine Tourismushochburgen wie Scharm El-Sheikh. Vor allem seit 2012 macht die Provinz jedoch erschreckende Schlagzeilen. Neben dem Waffen- und Drogenschmuggel, der im wirtschaftlich vernachlässigten Norden der Provinz eine wichtige Einkommensquelle darstellt, ist der Menschenhandel mit Flüchtlingen vor allem aus Eritrea, Sudan und Äthiopien das wohl lukrativste Geschäft von Schmugglerbanden und kriminellen Netzwerke geworden. Diese nutzen das sicherheitspolitische Machtvakuum in der Provinz und gehen seit Jahren von der Staatsgewalt weitgehend ungestört ihren brutalen und menschenverachtenden Geschäften nach. 2012 veröffentlichten die Menschenrechtsaktivistin Meron Estefanos, Professor Mirjam van Reisen und Dr. Conny Rijken von der Tilburg Universität in den Niederlanden einen aufsehenerregenden Bericht über die Lage von Flüchtlingen auf dem Sinai. Basierend auf Hunderten von Interviews mit Opfern der Menschenhändler auf dem Sinai beschreibt der Bericht detailliert die Hintergründe der Flüchtlingskatastrophe und die Folterpraktiken der Schlepper (erschienen in Junge Welt am 11.12.2013).
Vergangene Woche wurde in Brüssel, London, New York, Lampedusa, Tel Aviv und Kairo eine aktualisierte erweiterte Version des Berichtes mit dem Titel „The Human Trafficking Cycle: Sinai and Beyond“ vorgestellt. Der Bericht wurde nach einer Anhörung im Europäischen Parlament an EU-Innenkommissarin Ceclia Malmström übergeben. Nach den Erhebungen der Autorinnen sind seit 2007 rund 25000 bis 30000 Menschen auf die Sinai-Halbinsel geschleust worden, 5000 bis 6000 von ihnen sollen die Folterkammern oder ihre Flucht nicht überlebt haben. Die „Sinai Handelsindustrie“ soll nach Schätzungen der Autorinnen seit 2007 mindestens 600 Millionen US-Dollar an Lösegeldern eingebracht haben.
Oft werden Flüchtlinge in Flüchtlingslagern in Äthiopien oder Sudan gezielt entführt, auf den Sinai verschleppt und dort teils monatelang erpresst. Noch immer soll es zahlreiche Folterkammern im schwer zugänglichen Norden der Provinz geben, in denen die Entführer ihre Opfer auf brutalste Weise misshandeln, um deren Angehörige zur Zahlung von hohen Lösegeldsummen zu zwingen. Bis zu 50000 US-Dollar werden verlangt. Doch werden die Opfer nicht immer freigelassen, sondern schlicht an andere Schlepper verkauft und weiter misshandelt, vergewaltigt und ausgebeutet. Menschen, die es schaffen die verlangten Summen aufzutreiben und sich ihre Freiheit zu erkaufen, werden von Ägyptens Polizei oder der Armee verhaftet, interniert und abgeschoben. Ägypten missachtet konsequent seine internationalen Verpflichtungen beim Flüchtlingsschutz und diskriminiert und kriminalisiert Flüchtlinge. Auch Israel, ein wichtiges Zielland für Folteropfer aus dem Sinai, ist kein sicheres Ziel für Flüchtlinge. Das Land hat seine Asylbestimmungen massiv verschärft. Heute ist es fast unmöglich in Israel als Flüchtling Anerkennung zu finden. Zudem hat die Regierung eine 240 Kilometer lange Mauer an seiner Grenze zum Sinai bauen lassen, der Flüchtlinge von einem Grenzübertritt abhalten soll. Israelische Soldaten haben zudem immer wieder ankommende Flüchtlinge zurück nach Ägypten gejagt oder verhaftet und ägyptischen Sicherheitskräften übergeben. Beide Länder verstoßen damit rigoros gegen die Genfer Flüchtlingskonvention.
Der Norden der Provinz ist seit dem Sturz von Ex-Präsident Mohamed Mursi im Juli Schauplatz einer großangelegten Militäroffensive. Ziel der Offensive sind islamistische Extremisten und Schmuggler, die Waren und Waffen durch die Tunnel in den angrenzenden Gaza-Streifen transportieren, doch scheint die Armee inzwischen gegen Menschenhändler vorgegangen zu sein. Der bei der Vorstellung des Berichtes in Kairo anwesende Journalist Ahmed Abu Deraa berichtete seit Beginn der Militäroffensive seien mehrere Folterkammern zerstört worden. Einige der Schlepper hätten sich ins Ausland abgesetzt. Dennoch gehe das blutige Geschäft weiter, die Lage von Flüchtlingen am Nil habe sich keineswegs verbessert. Abschiebungen von Flüchtlingen, auch von Opfern der Folter auf dem Sinai, seien nach wie vor die Regel.
© Sofian Philip Naceur 2013