Als erster europäischer Spitzenpolitiker reiste der deutsche Außenminister Guido Westerwelle (FDP) am Montag nach Ägypten und traf sich mit dem frisch gewählten neuen Staatspräsidenten Mohamed Mursi. Das den Muslimbrüdern nahe stehende Staatsoberhaupt gewann die Stichwahl gegen den Regime-Kandidaten Ahmed Shafiq und war erst vor einer Woche offiziell vereidigt worden. Bereits letzte Woche besuchte US-Vizeaußenminister William J. Burns Kairo und überbrachte Mursi eine Einladung von Barack Obama für einen Staatsbesuch in den USA, der im September im Rahmen der UN-Vollversammlung stattfinden soll. Westerwelle traf sich noch am Dienstagabend mit seinem Amtskollegen Mohamed Kamel Amr, am Dienstag standen Gespräche mit dem Generalsekretär der Arabischen Liga Nabil Elaraby, der das Amt 2011 vom langjährigen Amtsinhaber Amr Moussa übernahm, und Mursi auf dem Programm. Die Initiative Westerwelles Ägypten einen frühen Besuch abzustatten solle als Signal verstanden werden und die Stabilisierung des Landes unterstützen.
Der Besuch des deutschen Außenministers in Ägypten, dass sich nach wie vor in einer Umbruchphase befindet, war weniger ein operativer Staatsbesuch als vielmehr eine symbolische Geste, die sicherlich als Zeichen der bundesdeutschen Ambitionen zu verstehen ist eine aktivere Rolle im Nahen Osten zu spielen, aber gewiss auch unter wirtschaftspolitischen Vorzeichen stand. Ägypten ist ein wichtiger Partner und die strategische Bedeutung des Suez-Kanals für die exportorientierte deutsche Industrie ist für das Auswärtige Amt nicht zu ignorieren. Für die Ambitionen Berlins seine Energieversorgung vom russischen Einfluss zu befreien war die Zurückhaltung bei der Nato-Intervention in Libyen 2011 geopolitisch ein Desaster. Berlin hatte sich im Vorfeld des Krieges im UN-Sicherheitsrat enthalten und der aus dem libyschen Bürgerkrieg siegreich hervorgegangene Übergangsrat kommunizierte offen, dass Deutschland sich bei der Vergabe neuer Konzessionen im Energiesektor hinten anstellen müsse.
Ägyptens Bedeutung reduziert sich jedoch nicht auf den Suez-Kanal, das Land ist ein Frontstaat im Nahostkonflikt und Berlin hat inzwischen gute Beziehungen zu den ägyptischen Streitkräften. Zudem sind die wirtschaftspolitischen Beziehungen bedeutsam. Eine Million deutscher Touristen besuchen jährlich das Land und die Bundesrepublik unterstützt seit Jahren eine offensive privatwirtschaftliche Investitionspolitik am Nil. Das alte Regime unter dem langjährigen autokratischen und vom Westen protegierten Machthaber Hosni Mubarak, der im März 2011 von der ägyptischen Revolution aus dem Amt gejagt wurde, verfolgte zusammen mit den mit ihm eng verbundenen Militärs eine neoliberale Privatisierungspolitik und forcierte die Öffnung des ägyptischen Marktes für ausländisches Kapital. Im Zuge seines Besuches in Kairo betonte Westerwelle denn auch, er hoffe die deutsche Wirtschaft könne sich auch weiterhin derart in Ägypten engagieren, schließlich würden Investitionen die heimische Wirtschaft stimulieren und somit zu einer gesteigerten Wirtschaftleistung beitragen.
Der Arabische Frühling hatte in den vergangenen 18 Monaten in zahlreichen Staaten der Region die gemäßigten Islamisten an die Macht gespült oder ihnen zumindest elementare Einflussgewinne beschert. Von der PJD (Parti de la Justice et du Développement) in Marokko, die seit Dezember gar den Ministerpräsidenten stellt, der tunesischen Ennahda und eben den Muslimbrüdern in Ägypten ist diese politische Schule vom Westen schlicht nicht mehr zu ignorieren, wie dies in den vergangenen Jahren noch eindrucksvoll praktiziert wurde. Neben der US-Administration baut nun auch die EU zunehmend umfangreiche Kontakte zu den moderaten Islamisten oder den Konservativen in der Region auf. Erleichternd kommt aus ideologischer Perspektive hinzu, dass die Muslimbrüder und ihr politischer Arm, die FJP (Freedom and Justice Party), eine tendenziell neoliberale Wirtschaftspolitik verfolgen. Neben der Befürwortung der Marktöffnung für ausländisches Kapital und Privatisierung von Staatsbetrieben steht die Bruderschaft gewerkschaftlichen Aktivitäten eher skeptisch gegenüber. Teile ihres Klientels und ihre Führungselite entstammen auch eher dem bürgerlichen Lager.
Das FDP-Dogma vom Allheilmittel des Neoliberalismus fällt hier demnach auf durchaus fruchtbaren Boden. Das Auswärtige Amt unter Westerwelle feilt daher schon länger an besseren Beziehungen mit den Konservativen in Ägypten. Bereits im Januar besuchte der Außenminister das Land am Nil. Neben Gesprächen mit dem seit der Revolution regierenden Obersten Rat der Streitkräfte (SCAF), geführt von Feldmarschall Mohamed Hussein Tantawi, traf sich der FDP-Politiker schon damals mit Mursi. Auch gratulierte Westerwelle rasch nach Bekanntgabe seines Wahlsieges dem neu gewählten Präsidenten, betonte jedoch der Weg zu echten demokrantischen Verhältnissen sei noch weit. Zudem sehe er den Militärrat in der Pflicht einen friedlichen Übergang zu unterstützen.
Der Militärapparat und sein exekutives Herrschaftsinstrument SCAF ist inzwischen eine Art Staat im Staate geworden. Seit dem Camp-David Abkommen von 1979, dem Friedensvertrag Ägyptens mit Israel, mischten sich die Generäle zunehmend in das Wirtschaftsgeschehen des Landes ein. Viele Unternehmen des Landes unterstehen inzwischen direkt den Militärbehörden, den Pensionsfonds der Armee oder einzelnen Generälen. Zwischen 20 und 40 Prozent der Wirtschaftsleistung Ägyptens sollen direkt oder indirekt von den Militärs kontrolliert werden. Nicht verwunderlich ist daher, dass der SCAF versucht eine ihm wohlgesonnene Transition des politischen Systems zu implementieren, sie fürchten schlicht um ihre wirtschaftlichen Privilegien und die Macht im Staat.
Seit dem Sturz des politischen Aushängeschildes Mubarak zeigte sich wer effektiv den ägyptischen Staat kontrollierte. Der SCAF monopolisierte schrittweise die Exekutive und legte demokratischen, linken und konservativen Kräften konsequent Steine in den Weg. Seit der ersten Runde der Wahlen um das Präsidentenamt streiten sich nunmehr nicht mehr die ägyptische Jugend und Revolutionäre um den Einfluss im Staatsapparat, sondern schlicht die alten Garden um den Militärrat und die bürgerlichen Muslimbrüder. Auf dem Tahrir Square im Herzen Kairos versammeln sich demnach auch inzwischen weniger revolutionäre Gruppen, als vielmehr zwei Machtblöcke, die sich um die Pfründe des mittlerweile klammen Staatsäckels streiten. Der SCAF hat noch kurz vor dem zweiten Wahlgang die Kompetenzen des Präsidentenamtes stark beschnitten und wollte somit einem möglichen Sieg Mursis zuvorkommen und seinen politischen und wirtschaftlichen Einfluss wahren.
Eine Woche nach der offiziellen Vereidigung Mursis und seiner symbolischen Rede auf dem Tahrir in Downtown verkündete er per Dekret die Widereinsetzung des kurz zuvor aufgelösten Parlamentes. Das den Generälen nahestehende Verfassungsgericht erklärte die Parlamentswahlen, aus denen die Muslimbrüder und die radikalen Salafisten der Nour-Partei als klare Sieger hervorgegangen waren, als verfassungswidrig. Der in Katar ansässige TV-Kanal Al Jazeera betonte jedoch die per Referendum 2011 angenommene Interimsverfassung verleihe keiner Institution die Autorität das Parlament für ungültig zu erklären. Am Dienstag bekräftige das Gericht seine Entscheidung erneut. Rund um das Gerichtsgebäude in Dokki auf der westlichen Nilseite kam es am Dienstagnachmittag zu Protesten, während Gegner der Muslimbrüder bereits seit Tagen im östlichen Viertel Nasr City demonstrierten. Erstmals seit der symbolischen Antrittsrede Mursis auf dem Tahrir Square am 30. Juni sammelten sich auch Dienstagabend wieder Tausende Demonstranten auf dem Platz und bekräftigen ihre Unterstützung für den Präsidenten und das von den Konservativen dominierte Parlament.
Zweifellos eröffnete das präsidiale Dekret Mursis zur Wiedereinsetzung des Parlaments eine neue Runde im Machtkampf zwischen den konservativen Muslimbrüdern und den Militärs. Seinem Aufruf vom Wochenende am Dienstag eine Parlamentssitzung abzuhalten wurde von zahlreichen Politikern befolgt, die Kammer vertagte ihre Sitzung jedoch nach wenigen Minuten auf unbestimmte Zeit. Beide dominierenden Seiten im innenpolitischen Machtgerangel konnten damit ihr Gesicht wahren, zur Zeit deutet vieles auf eine zwar nicht harmonische, aber mittelfristige jedoch stabile Machtteilung von Armee und Muslimbrüdern hinaus. Während die Revolutionsdynamik inzwischen zum Machtkampf mutiert ist, drohen Jugendverbände und demokratische, liberale und vor allem linke Kräfte von der Situation am Nil zunehmend zerrieben zu werden. Die ersten Jugendorganisationen, die koalitionär aufgestellt waren, haben bereits ihre Auflösung bekannt gegeben, auch wenn die einzelnen Gruppen auch weiterhin aktiv bleiben wollen. Die Opposition abseits der Religiösen und Technokraten jedoch ist gespalten, ob mittelfristig ihre Reorganisation gelingt bleibt ungewiss.
© Sofian Philip Naceur 2012