Die innenpolitische Lage in Ägypten bleibt trotz der eingeschränkten Machtübergabe an den neu gewählten zivilen Staatspräsidenten Mohamed Mursi angespannt. Eine Woche nach der Vereidigung des neuen Staatsoberhauptes in Kairo setzte Mursi das kurz vor der Stichwahl Ende Juni vom Verfassungsgericht aufgelöste Parlament per Dekret wieder ein und provozierte damit den offenen Machtkampf mit dem seit der ägyptischen Revolution 2011 und dem Sturz des langjährigen und vom Westen protegierten Autokraten Hosni Mubarak herrschenden Militärrat (Supreme Council oft the Armed Forces, SCAF). Bereits vergangenen Freitag riefen die Muslimbrüder und ihr politischer Arm, die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (Freedom and Justice Party, FJP), erstmals seit Mursis symbolischer Antrittsrede auf dem Tahrir-Platz im Herzen Kairos wieder zu Demonstrationen auf.
Machtkampf zwischen Muslimbrüdern und Militärrat in Ägypten spitzt sich wieder zu
Seit Bekanntgabe der Ergebnisse der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen zersplitterte sich die breite Koalition von Regimegegnern zunehmend und die symbolische Präsenz von Zivilgesellschaft, Jugendorganisationen und parteinahen Fraktionen auf dem Tahrir wurde mehr und mehr von gemäßigten Religiösen vereinnahmt. Überraschend traten schließlich bei der Stichwahl um das Präsidentenamt im Juni der Regime-Kandidat Ahmed Shafiq und der Vertreter der Muslimbrüder Mursi gegeneinander an. Die säkulare, liberale und linke Opposition trat in den Hintergrund. Bis zur offiziellen Vereidigung Mursis campierten dennoch zahlreiche Menschen auf dem Platz in Downtown und zogen erst am 1. Juli wieder ab.
Der Militärrat um seinen autoritären Vorsitzenden Feldmarschall Mohamed Hussein Tantawi hatte noch kurz vor der Wahl mit Hilfe des ihm loyal zur Seite stehenden Verfassungsgerichts das neu gewählte Parlament auflösen lassen, mit der Begründung die Wahl habe der 2011 per Referendum verabschiedeten Interimsverfassung widersprochen, da hier ein Drittel der Sitze für unabhängige Kandidaten vorgesehen sei. Aus den Parlamentswahlen gingen die konservativen und reaktionären Kräfte mit großer Mehrheit hervor, stärkste Kraft wurde die FJP vor der Salafistenpartei Al-Nour. Der in Katar ansässige arabische TV-Sender Al Jazeera betonte, keiner staatlichen Institution sei mit dieser Verfassung die Autoritär gegeben worden das Parlament aufzulösen. FJP-Kreise sprachen von einem Staatsstreich des SCAF, dem im innenpolitischen Machtkampf nur daran gelegen sei die eigene Machtbasis in politischen aber auch wirtschaftlichen Belangen abzusichern.
Während das Gericht auch heute in einer Sitzung verkündete seine Entscheidung das Unterhaus aufzulösen sei „bindend“, folgte ein Großteil der Abgeordneten Mursis Aufruf und trat am Mittag zu einer symbolischen Sitzungzusammen, die jedoch bereits nach fünf Minuten wieder beendet war. Das Parlament vertagte seine Zusammenkunft vorerst auf unbestimmte Zeit. Mit dieser Lösung konnten beide die ägyptische Innenpolitik dominierenden Gruppierungen, die Muslimbrüder und die Militärs um den SCAF, ihr Gesicht wahren und vorerst eine offene Konfrontation vermeiden. Der Machtkampf um die Kontrolle der Exekutive wird weiter gehen.
Muskelspiele waren dennoch in den vergangenen Tagen in Kairos Zentrum zu spüren. Nach dem überraschenden Manöver Mursis und der Verkündung seines Dekrets zur Widereinsetzung des Parlaments traf sich der SCAF zu einer Sondersitzung, bereits am Sonntag schienen Sicherheitskräfte aus dem Herzen Kairos abgezogen worden zu sein. Schon während der Revolution 2011 und vor allem nach dem Rücktritt Mubaraks am 11. März nutzte das Militär alle Möglichkeiten, um die Menschen von den Demonstrationen fern zu halten und zog neben der Militärpolizei auch die Verkehrspolizei von den Straßen ab. Die Folge war eine erhöhte Beschaffungskriminalität und seit Beginn 2012 auch zunehmend gewaltsame Übergriffe gegenüber Frauen, der Bevölkerung sollte eindrucksvoll demonstriert werden, dass die Menschen die Wahl haben zwischen autoritärer Militärherrschaft oder Chaos und Unsicherheit auf den Straßen Kairos.
Die erneuten Demonstrationsaufrufe der Muslimbrüder vom vergangenen Freitag wurden Sonntag noch einmal widerholt, erste Vorbereitungstreffen auf dem Tahrir-Square am Montagabend sollten die heutigen Massenaufläufe vorbereiten. Zahlreiche Oppositionskräfte, die sich teilweise in der 25th January Revolution Youth Coalition organisiert hatten, sind uneins übe die weitere Vorgehensweise und teils stark zerstritten ob der Frage der Unterstützung oder Ablehnung Mursis. Die Koalition verkündete offiziell ihre Auflösung, betonte jedoch man werde weiter zivilgesellschaftliche und politische Arbeit leisten. Gewerkschaftsnahe und den koptischen Christen Ägypten verbundene Organisationen halten sich schon seit Längerem aus dem Zentrum der Proteste in Downtown fern.
Dennoch füllte sich der Tahrir-Square heute Abend wieder zügig mit Protestlern, hauptsächlich getragen von der Anhängerschaft Mursis. Kleinere und größere Kundgebungen fanden seit dem späten Nachmittag auf dem Platz statt, der Verkehr auf dieser Hauptverkehrskreuzung liegt inzwischen weitgehend lahm. Die Sicherheitskräfte halten sich aus dem unmittelbaren Umfeld fern, lediglich der nur etwa 100 Meter entfernt liegenden Komplex der beiden Parlamentskammern sowie die im angrenzenden Stadtvierteil Garden City an der Nil-Promenade angesiedelten Botschaften zahlreicher Staaten werden noch von Sicherheitskräften bewacht. Die Stimmung ist derzeit zwar friedlich, die Entwicklung in den kommenden Wochen jedoch offen.
Derzeit läuft alles auf eine Machtteilung zwischen den Konservativen um die Muslimbrüder auf der einen Seite und den herrschenden Militärs um den SCAF auf der anderen Seite hinaus. Wirtschaftpolitisch stehen sich beide Gruppierungen nahe, im Übrigen auch ein Aspekt der die inzwischen deutliche Annäherung westlicher Regierungen an die FJP und Mursi deutlich beschleunigt haben dürfte. Die Muslimbrüder verfolgen eine ebenso neoliberale Ausrichtung wie die Militärs in den vergangenen Jahrzehnten, sie stehen Privatisierungen staatlicher Unternehmen und Marktöffnung äußerst positiv gegenüber und lehnen gewerkschaftliche Aktivitäten tendentiell eher ab.
US-Vizeaußenminister William Joseph Burns, der sich vergangene Woche für eine Kurzvisite in Kairo aufhielt, sprach nicht umsonst eine Einladung Präsident Barack Obamas für einen Staatsbesuch in den USA aus, der im Rahmen der UN-Generalversammlung im September stattfinden soll. Auch der deutsche Außenminister Guido Westerwelle (FDP), der Montag als erster europäischer Spitzenpolitiker dem neu gewählten Mursi einen Besuch abstattete, überbrachte eine Einladung von Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Staatsbesuch in Berlin. Westerwelle traf im Rahmen seines Besuchs zudem mit seinem Amtskollegen Mohamed Kamel Amr und dem Generalsekretär der Arabischen Liga Nabil Elaraby zusammen.
Aus dem Auswärtigen Amt verlautete zwar man wollte ein „Signal für die demokratische Stabilität“ setzen, wirtschaftlich motivierte und geopolitische Faktoren dürften jedoch ebenso wichtig gewesen sein. Nach der Enthaltung Berlins im UN-Sicherheitsrats im Vorfeld des NATO-Waffengangs in Libyen hat Deutschland nach wie vor Probleme den alten Einfluss in Tripolis zurückzugewinnen, der Übergangsrat hatte die deutsche Zurückhaltung registriert und offen geäußert, Berlin müsse sich nun bezüglich der Vergabe von Konzessionen im Energiesektor hinten anstellen. Diesen Fehler will die Bundesregierung gewiss nicht noch einmal machen und Ägypten ist aufgrund seiner geopolitischen, wirtschaftlichen und militärischen Bedeutung als Partner unverzichtbar für die exportorientierte deutsche Rüstungsindustrie und das Bestrebens bundesdeutschen Kapitals im Ausland Investitionsmöglichkeiten zu akquirieren.
© Sofian Philip Naceur 2012