Ägyptens Präsidentschaftswahlkampf läuft auf Hochtouren. Mit Ex-Verteidigungsminister Abdel Fattah El Sisi und Hamdeen Sabahi stehen zwei Kandidaten zur Wahl. Doch hat Ägypten wirklich eine Wahl? Während Sabahi im revolutionären Lager nach Stimmen fischt, soziale Gerechtigkeit fordert und das umstrittene Protestgesetzes annullieren will, stützt Sisi das restriktive Gesetz und setzt auf den Sicherheitsdiskurs. Er versteht sich als Antipode zu den gestürzten Muslimbrüdern, deren Dämonisierung er für sich zu nutzen weiß und verspricht das Land zu stabilisieren. Letztlich jedoch stehen beide für ein nationalistisch-autoritäres Staatsverständnis und eine Restaurierung der Zentralgewalt. Sisis Sieg ist ausgemachte Sache, hat er doch breite Unterstützung in der Bevölkerung und die Rückendeckung der Generäle, deren Privilegien und politische Macht unter ihm konserviert bleiben werden. Der wirtschaftspolitische Einfluss der Armee dürfte sich unter Sisi gar weiter ausweiten. Zwar musste er für die Kandidatur seine Militäruniform ablegen, doch besteht kein Zweifel, dass er als hochdekorierter Ex-General auch als Präsident die Interessen der Armee vertreten wird (erschienen in Die Wochenzeitung vom 15.5.2014).
Seit der Absetzung des demokratisch gewählten aus den Reihen der Bruderschaft stammenden Präsidenten Mohamed Mursi am 3. Juli 2013 durch die Armee wird über die Bezeichnung der Ereignisse gestritten. War es ein Staatsstreich oder doch eine Revolution? Beide Versionen greifen zu kurz, vermögen sie die Rolle des Militärs im politischen Machtgefüge Kairos doch nur verkürzt abbilden. Seit dem Sturz der Monarchie und dem Putsch der Freien Offiziere unter Gamal Abdel Nasser 1952 ist die Armee die mächtigste Institution im Land und hat ihren Einfluss nach dem 3. Juli weiter ausgebaut. Die Armee ist heute nicht nur das Rückgrat des restaurierten Regimes und ein Garant westlicher Interessen am Nil, sondern ein machtvolles Wirtschaftsimperium, das 20 bis 40% der gesamten Wirtschaftsleistung im Land kontrolliert.
Ägyptens Armee besitzt Bäckereien, Baufirmen, Lebensmittelkonzerne, Hotels und ist im Trinkwassergeschäft aktiv. Zudem beschäftigt das Militär zehntausende Arbeiter in dutzenden Fabriken, die sowohl militärische als auch zivile Güter herstellen. In diesen Fabriken werden neben Kühlschränken und Klimaanlagen auch Patronenhülsen oder Maschinengewehre gebaut. Gemeinschaftsunternehmen wie Arab American Vehicles, ein Joint Venture mit dem US-Automobilgiganten Chrysler, produziert neben Militärfahrzeugen auch PKW’s für den zivilen Markt. Allein 14 Unternehmen werden vom Ministerium für militärische Produktion kontrolliert, in denen 40000 Menschen arbeiten. Tatsächlich sind jedoch weit mehr Menschen bei militäreigenen Firmen beschäftigt, da das Ministerium nur einen Teil der von der Armee gesteuerten Unternehmen überwacht. Die Militärführung operiert dabei unter hochgradig günstigen Bedingungen, schließlich zahlen ihre Firmen keine Steuern, besitzen Liefermonopole und Importlizenzen und sind keiner öffentlichen Rechenschaftspflicht unterworfen. Die im Januar angenommene neue Verfassung erlaubt den Generälen zudem weiterhin erheblichen Einfluss auf die Wahl des Verteidigungsministers, schirmt den Armeehaushalt von exekutiver Kontrolle ab und stattet die umstrittenen Militärtribunale gegen Zivilisten mit Verfassungsrang aus. Die Militärgerichtsbarkeit ist damit faktisch immunisiert und bleibt für zivile Institutionen unantastbar.
Zudem sind rund die Hälfte der 470000 Mann starken Armee Wehrpflichtige. Werden Graduierte der Ingenieurswissenschaften eingezogen, leisten sie ihren Wehrdienst in armeeeigenen Baukonzernen ab und nicht in der Kaserne. Bei einem Monatssold von gut 20 Euro kann die Armee damit ein unendliches Reservoir billiger Arbeitskraft aufbieten und bei ausgeschriebenen Aufträgen jeden Preis unterbieten. Auch hat die Armee bei fast jedem Bauprojekt die Hände mit im Spiel, kontrolliert sie doch de facto mehr als 85% der landesweit ungenutzten Fläche. Will die Regierung Straßen bauen oder ein Konzern ein Hotel errichten, müssen die Generäle ihr Einverständnis geben, schließlich ist ein Großteil des ungenutzten Landes am Nil – zumindest theoretisch – militärisches Gebiet. Auch spielen pensionierte Generäle in Ägyptens Wirtschaft eine große Rolle, werden sie doch oft mit Jobs in Staatsunternehmen oder Gouverneursposten belohnt. Ohne die Armee funktioniert nichts am Nil. Sie hat sich zur Krake entwickelt, die sich in alle Wirtschaftszweige Ägyptens eingenistet hat.
Das zentrale Ereignis für die Geburt des armeeeigenen Wirtschaftsimperiums war Ägyptens Friedensschluss mit Israel 1979. Ägyptens damaliger Präsident Anwar El Sadat kürzte das Armeebudget und reduzierte die Truppenstärke. Hunderttausende arbeitsloser Soldaten und Offiziere gaben Sadats Verteidigungsminister Abdelhalim Ghazala ein Argument an die Hand, um der Armee wirtschaftliche und damit zivile Aufgaben zuzutragen. Neben der Industrie setzten die Generäle auf Tourismus. Die Armee kontrolliert den gesamten von Israel an Ägypten zurückgegebenen Sinai und deklarierte frühere militärische Sperrgebiete an dessen Küsten schlicht zu Investitionsobjekten für die internationale Tourismusbranche. Die Einkünfte aus zivilen Projekten nutzte Ghazala schließlich für den Bau zahlreicher Freizeiteinrichtungen und Krankenhäuser in ganz Ägypten, deren Nutzung Angehörigen der Armee und ihren Familien vorbehalten ist. Mit diesem Schachzug kooptierte die Armee Hunderttausende und schuf eine breite armeetreue Mittelschicht.
Seither ist die Armee zur wichtigsten wirtschaftlichen Institution am Nil aufgestiegen und konnte seit Mursis Absetzung ihren Griff auf Ägyptens Wirtschaft gar weiter ausbauen. Auf Grundlage des Präsidialdekrets von Interimspräsident Adli Mansour, dass der Regierung erlaubt in Notfällen Aufträge auch ohne Ausschreibung direkt zu vergeben, wurden seither hunderte öffentliche Bauprojekte an militäreigene Konzerne vergeben. So schloss die Armee ein 40 Milliarden US-Dollar schweres Abkommen mit Arabtec, einem Baukonzern aus Dubai, über die Errichtung von einer Million Sozialwohnungen. Das Projekt wurde zum Bestandteil von Sisis Wahlkampagne erklärt und wird von Menschenrechtlern scharf kritisiert. Es öffne der Korruption Tür und Tor. Viel bedeutender als dieses Vorhaben ist jedoch das Sonderwirtschaftsprojekt in der Suez-Kanal-Zone, dass durch den Ausbau der Hafenanlagen Investoren anlocken und jährlich Milliarden in die Kassen der beteiligten Firmen spülen soll. Die militärnahe Regierung in Kairo habe das Bieterverfahren unter ihre Kontrolle gebracht und wolle im Oktober bekanntgeben, welche der 14 angetretenen Firmen das Rennen macht, berichtet die International Business Times im April. Aussichtsreicher Bieter sei der staatliche Bauriese Arab Contractors, der elf Jahre lang vom amtierendem Premierminister Ibrahim Mehlab geleitet wurde. Bekommt der Konzern den Zuschlag, profitiert erneut die Armee. Auch die Regierung Mursi hatte sich aktiv in die Auftragsvergabe des Kanal-Projektes eingemischt. Der TV-Sender Al Jazeera mutmaßt sogar, das prestigeträchtige Projekt sei ein wichtiger Faktor gewesen, der die Armee veranlasste Mursi zu stürzen.
Seit Mursis Sturz hat die Armee ihre Macht enorm ausgeweitet, dabei jedoch systematisch Menschenrechte verletzt und jedwede Opposition zum Militärregime in Kairo mundtot gemacht. Proteste gegen die enorme Machtfülle der Armee gehören zwar wieder zum Alltag, doch hat das Militär seinen Einfluss dank der neuen Verfassung konsolidieren können und sich faktisch immunisieren lassen. Auch hat die vom Militär gestützte Hetzkampagne gegen die Muslimbrüder und die linksliberale Opposition dafür gesorgt, dass Proteste von Vielen inzwischen grundsätzlich abgelehnt werden. Das Land müsse stabilisiert werden und die einzige Institution, die dazu in der Lage ist, sei die Armee, heißt es oft. Die von den Generälen vorangetriebene Restauration der alten Ordnung hat jedoch Spuren hinterlassen. 3200 Menschen wurden seit dem 3. Juli in Ägypten getötet, fast 20000 verhaftet. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der designierte Präsident Sisi als Gesicht eines ausbeuterischen repressiven Staates wahrgenommen wird und sich Demonstrationen gegen Militärherrschaft und für politische Freiheiten erneut entzünden.
Factbox zu den Präsidentschaftswahlen 2014:
Am 26. und 27. Mai wählt Ägypten einen neuen Präsidenten. Zwei Kandidaten wurden zur Wahl zugelassen. Haushoher Favorit ist Abdel Fattah El Sisi, Ex-Verteidigungsminister und federführend beim Sturz Präsident Mohamed Mursis 2013. Dieser hatte Sisi im August2012 zum Verteidigungsminister und damit zum jüngsten Mitglied des Obersten Militärrates, des wichtigsten Armeegremiums, ernannt. Sisis Gegenkandidat ist der Sozialist Hamdeen Sabahi, Drittplatzierter bei der Präsidentschaftswahl 2012 und Chef der nasseristischen Karama-Partei. Sabahis Kandidatur gilt als aussichtslos. Das offizielle Ergebnis wird bis zum 5. Juni erwarten.
© Sofian Philip Naceur 2014