Einen Tag nach dem brutalen Vorgehen ägyptischer Sicherheitskräfte gegen die Protestcamps der Muslimbrüder in Kairo steigen die offiziellen Opferzahlen im Minutentakt. Nach amtlichen Abgaben wurden bei Zusammenstößen zwischen Armee und Polizei und Anhängern der Muslimbrüder landesweit mindestens 525 Menschen getötet, die meisten davon in Kairo. Gehad El-Haddad, Sprecher der Muslimbrüder spricht von 4000 Opfern landesweit. Die Protestcamps der Bruderschaft in Nasr City in Kairo und am Nahda-Platz in Giza wurden dem Erdboden gleich gemacht. Zelte wurden angezündet und mit Bulldozern geräumt. Nach Beginn der Räumungsaktion breiteten sich die Proteste über ganz Ägypten aus. Aus unzähligen Städten wurden Demonstrationen und Ausschreitungen gemeldet. Anhänger des gestürzten Ex-Präsidenten Mohamed Mursi zündeten Polizei- und Militäreinrichtungen an. In Giza wurde der Amtssitz der Regionalregierung angezündet und brannte aus. In Minya im Nil-Delta starben mindestens 41, in Fayoum südlich von Kairo 17 Menschen. Auch in Touristengebieten, die meist von derartigen Protesten verschont blieben, kam es zu Zwischenfällen. In Luxor wurde ein Hotel angezündet, in Hurghada am Roten Meer soll ein Demonstrant getötet worden sein (erschienen in Junge Welt vom 16.8.2013).
Die Übergangsregierung hat den Ausnahmezustand und eine Ausgangssperre verhängt, vorerst für die Dauer von einem Monat. Die Notstandsgesetzgebung erlaubt es Armee und Polizei Verhaftungen ohne richterliche Beschlüsse vorzunehmen. Öffentliche Versammlungen sind strikt untersagt und der Armee ist nun legal der Einsatz auf Ägyptens Straßen erlaubt. Kairo gleicht seit Mittwochmittag einer Geisterstadt. Geschäfte bleiben geschlossen, es sind kaum Menschen auf den Straßen. Die Armee hat Panzer an den Hauptstraßen Kairos postiert und Straßensperren errichtet.Innenminister Mohamed Ibrahim verteidigt das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte und beschuldigt die Anhänger der Muslimbrüder scharfe Munition gegen die Polizei eingesetzt zu haben. Dennoch mangelt es weiter an aussagekräftigen Beweisen für die Anschuldigungen. In den Camps wurden offenbar keine Waffen gefunden. Die Regierung warf den Muslimbrüdern wochenlang vor in den Camps Waffen zu horten und versucht damit die gewaltsame Räumung zu legitimieren.
In der Übergangsregierung rumort es derweil heftig. Vizepremierminister Mohamed El-Baradei trat aus Protest gegen das Vorgehen der Polizei von seinem Amt zurück. Es hätte andere Möglichkeiten gegeben die Camps der Bruderschaft aufzulösen, die gewalttätige Räumung spiele nur Extremisten in die Hände, sagte er. Auch die Revolutionären Sozialisten verurteilten den Gewalteinsatz der Polizei aufs Schärfste. Während sie Armee und Regierung vorwerfen mit diesem „geplanten Massaker“ die Revolution „liquidieren“ und den 2011 gestürzten „Militär- und Polizeistaat“ Hosni Mubaraks restaurieren zu wollen, prangern sie die Muslimbrüder für ihre Übergriffe auf Kirchen und christliche Einrichtung an.
Die aus Nasr City und Giza vertriebenen Anhänger der Muslimbrüder versuchen unterdessen ein neues Protestcamp in Mohadeseen am westlichen Nilufer zu etablieren und lieferten sich schon am Mittwoch Straßenschlachten mit der Polizei. Ein Polizeifahrzeug ging in Flammen auf. Tausende Anhänger der Muslimbrüder versammelten sich an der Mostafa Mahmoud Moschee in der Prachtallee Gamat El-Dowal und errichteten Barrikaden. Dass sich in Mohandeseen ein neues Camp der Bruderschaft etabliert, darf bezweifelt werden. Räumungsversuche der Polizei sind zu erwarten. Die Bruderschaft kündigte derweil neue Proteste an. Man bleibe „aufsässig und entschlossen“, so El-Haddad.
© Sofian Philip Naceur 2013