Zahlreiche Jugendgruppen und Oppositionsparteien sowie die Ultras des ägyptischen Fußballclubs Al-Ahly mobilisieren seit Wochen für die angekündigten Proteste am 30. Juni gegen die Regierung und die Muslimbruderschaft anlässlich des Jahrestages des Amtsantritts von Ägyptens Staatspräsident Mohamed Mursi. Dieser hatte sich im Juni 2012 in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen knapp gegen Ahmed Shafik, den von Militärs und altem Regime bevorzugten Kandidaten und ehemaligen Premierminister unter Hosni Mubarak, durchgesetzt und am 30. Juni 2012 seine inoffizielle Antrittsrede auf dem Tahrir-Platz in Kairos Stadtzentrum gehalten. Der der islamistischen Muslimbruderschaft nahe stehende Mursi, der erste zivile Präsident Ägyptens seit der Machtübernahme der Freien Offiziere unter Gamal Abdel Nasser 1952, betonte damals auf dem symbolträchtigen Tahrir, er wolle der „Präsident aller Ägypter“ sein und schob auf der Rednertribüne öffentlichkeitswirksam seine Leibwächter zur Seite. Im Gegensatz zu Mubarak habe er keine Angst vor dem Volk, so die Symbolik dieser Geste, und werde im Sinne des Volkes regieren und den Staatsapparat erneuern (erschienen bei Zenith Online).
Knapp ein Jahr nach Mursis Inthronisierung ist die Hoffnung Ernüchterung gewichen. Mursis Amtszeit wurde bisher fast ununterbrochen begleitet von Protesten der Opposition gegen die Politik der konservativen Muslimbrüder und einer befürchteten schleichenden Islamisierung der Gesellschaft sowie unzähligen Arbeitskämpfen und Streiks. Nach den gewaltsamen Höhepunkten der Oppositionsproteste im November und Dezember 2012 sowie im Februar 2013 war es in den vergangenen Monaten deutlich ruhiger geworden auf den Straßen Kairos. Doch in den letzten Tagen präsentierte sich die Kritik am Führungsstil von Regierung und Präsident wieder vermehrt in der Öffentlichkeit. Am Sonntag fand im zentralen Kairoer Nobelviertel Garden City eine kleine Demonstration gegen die Belästigung von Frauen statt, ein vor allem seit der Revolution 2011 ausuferndes Phänomen in der ägyptischen Gesellschaft. Die Belästigung von Frauen in der Öffentlichkeit, ob auf der Straße oder in öffentlichen Transportmitteln, gehört zum Alltag in Ägypten. Ebenfalls am Sonntag riefen die Ultras des populären Kairoer Fußballvereins Al-Ahly zu einem Marsch durch Kairos Innenstadt auf.
Die Al-Ahly-Ultras, die während der Revolution 2011 eine tragende Rolle bei den Straßenkämpfen gegen die Polizei und die dem Innenministerium unterstehenden Paramilitärs inne hatten und als extrem Regime-kritisch gelten, haben im Laufe der Revolution und der seither andauernden Übergangsphase zahlreiche Todesfälle zu verzeichnen. Höhepunkt war der Tod von 74 Ahly-Fans nach einem Ligaspiel in Port Said zwischen Al-Ahly und Al-Masry am 1. Februar 2012, als die Anhänger der Heimmannschaft die Gästetribüne stürmten. Die Sicherheitskräfte griffen nicht ein. Die knapp 300 Anhänger Ahlys, die Sonntag durch Kairo marschierten, erinnerten an den Tod von Mohamed El Gendy, der während der Revolution in einer Polizeiwache zu Tode gefoltert wurde und Gaber „Jika“ Salah, der erste tote Demonstrant bei den Protesten im November 2012 in Kairo. Die Demonstranten zogen vom Tahrir durch Downtown und versammelten sich vor Jikas Elternhaus, drückten ihre Solidarität mit der Familie des Verstorbenen aus und verteilten Flugblätter.
Weiter Proteste und kleiner Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften fanden bereits Freitag und Samstag in der Nähe des Innenministeriums und an der Qasr-Al-Nil-Brücke im Herzen der ägyptischen Hauptstadt statt. Zudem protestieren seit Anfang Juni Hunderte Menschen vor dem Kultusministerium in Zamalek, einem Nobelstadtviertel im Herzen Kairos, gegen die Absetzung der Direktorin des Kairoer Opernhauses Enas Abdel Dayem durch Kultusminister Alaa Abdel-Aziz und fordern seinen Rücktritt. Abdel-Aziz, der erst im Mai 2013 ernannt worden war, kündigte an hart gegen Korruption vorgehen zu wollen. Die Protestler wittern hinter der Absetzung Dayems einen Schachzug Mursis, um das Kulturhaus auf Linie zu trimmen. Das Ministerium plant das Budget für die Oper und andere Kulturinstitutionen massiv zu kürzen.
All diese kleineren Proteste können als Aufwärmphase für die zu erwartenden Massenproteste am 30. Juni interpretiert werden. Nachdem seit Dezember keine größeren Demonstrationen gegen Regierung und Staatspräsident stattfanden, der Unmut über die Regierungspolitik und die anhaltenden Wirtschaftskrise jedoch keinesfalls nachgelassen hat, wärmt sich die Stimmung innerhalb der Opposition langsam wieder auf. Präsident Mursi steht inzwischen unter zunehmenden innenpolitischen Druck, eine Kampagne für vorgezogene Präsidentschaftswahlen hat nach eigenen Angaben über sieben Millionen Unterschriften sammeln können. Die Aktivisten mit den DIN-A4 Zetteln in der Hand sind auf Kairos Straßen – zumindest im Stadtkern – omnipräsent. Mursi setzt derweil auf Nationalismus und versucht mit seiner Polemik gegen den Bau eines Staudamms in Äthiopien die Opposition hinter sich zu scharren. Der Damm gefährde Ägyptens nationale Sicherheit. Ägyptens Wasserversorgung speist sich zu 95 Prozent aus dem Nil und es wird befürchtet, dass der Bau des Staudamms in Äthiopien den Wasserzufluss nach Ägypten massiv einschränken werde. Der populäre Linkspolitiker und scharfe Kritiker Mursis Hamdeen Sabahi rief vergangene Woche dazu auf die Regierung in dieser Frage zu unterstützen, Mursis Aufruf zur nationalen Einheit kann damit zumindest einen Teilerfolg verbuchen, scheint das Ziel dieses Manövers doch zu sein, den Protesten am 30. Juni das Wasser abzugraben und die Opposition zur Mäßigung zu bewegen.
© Sofian Philip Naceur 2013