Der Bau des Mega-Staudamms in Äthiopien sorgt für Unmut in Ägypten, das auf das Nil-Wasser zwingend angewiesen ist und um seine Wasserversorgung fürchtet. Während Äthiopiens Regierung betont der Staudamm verfolge lediglich den Zweck durch die Installation von Wasserkraftwerken die Stromproduktion des Landes zu erhöhen und keineswegs Wasser zur landwirtschaftlichen Nutzung abzuzweigen, versucht Ägyptens Regierung aus dem Projekt politisches Kapital zu schlagen. Ägyptens Präsident Mohamed Mursi und führende Oppositionspolitiker bedienen sich im Umgang mit dem umstrittenen Staudammprojekt einer zunehmend nationalistischen Rhetorik und rufen zur nationalen Einheit auf. Am Montagabend sagte Mursi auf einer Konferenz zu den möglichen Folgen des Großprojektes in Äthiopien: „Wenn unser Anteil am Nil-Wasser sinkt, ist unser Blut die Alternative.“ Vergangene Woche fand in Kairo eine mit hochrangigen Oppositionspolitikern besetzte Debatte statt, bei der „vergessen“ wurde die Teilnehmer darüber zu informieren, dass die Veranstaltung live im Staatsfernsehen übertragen wird.
Der Chef der liberalen Ghad-Partei Ayman Nour schlug vor Gerüchte zu streuen Ägypten plane den Staudamm aus der Luft anzugreifen, um Äthiopiens Regierung zum Einlenken zu bewegen. Younis Makhyoun, Vorsitzender der radikal-salafistischen Al Nour-Partei, sagte die Unterstützung äthiopischer Rebellen sei ein Weg, um Äthiopien unter Druck zu setzen. Die Entschuldigungen aus dem Umkreis des Präsidenten für diesen faux pas sind nur bedingt ernst zu nehmen, scheint es sich hierbei vielmehr um politisches Kalkül zu handeln. Der populäre Linkspolitiker Hamdeen Sabahi, einer der wenigen ernstzunehmenden Konkurrenten Mursis für die nächsten Präsidentschaftswahlen, rief vergangene Woche dazu auf die Regierung in dieser „nationalen Frage“ zu unterstützen.
Präsident Mursi und Ägyptens Regierung versuchen offenbar gezielt das Staudammprojekt in Äthiopien zu instrumentalisieren und mittels einer verschärften nationalistischen Rhetorik die Opposition auf Linie zu trimmen, unter anderem um den angekündigten Massenprotesten anlässlich des ersten Jahrestages seiner Amtseinführung am 30. Juni den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Protest- und Streikbewegung gegen die Regierung und die Arbeitsverhältnisse im Land hat zwar in den letzten Monaten deutlich an Dynamik verloren, nachdem Ägypten seit Mursis Inthronisierung im Juni 2012 fast ununterbrochen von Arbeitskämpfen oder regierungskritischen Demonstrationen heim gesucht wurde, doch sorgt seit einiger Zeit eine Unterschriftenkampagne für das Abhalten vorgezogener Präsidentschaftswahlen für Unmut im politischen Arm der Muslimbrüder, der Freedom and Justice Party, dominierten Staatsapparat.
Der 30. Juni ist ein Schlüsseldatum für die Opposition, geht es doch darum möglichst viele Menschen zu mobilisieren, um Mursi weiter unter Druck setzen zu können und dem Regime zu zeigen, dass die Opposition nach wie vor regen Zulauf erhält. Die nationalistische und Fakten-verschleiernde Kampagne der Regierung versucht eine temporäre nationale Einheit in einer angeblich für Ägyptens Wasserversorgung gefährlichen außenpolitischen Konstellation zu vermitteln und soll als Ventil für den Frust der Bevölkerung über die wirtschaftliche Misere herhalten.
Die kontroverse Debatte um das Staudammprojekt in Äthiopien wird in Ägypten seitens der regierenden Freedom and Justice Party gezielt einseitig geführt. Während das offizielle Ägypten betont, der Damm gefährde die Wasserversorgung des Landes und sei eine Frage der nationalen Sicherheit, betonten Wasserexperten und Ingenieure, der Staudamm werde Ägyptens Versorgung mit Wasser und Strom keineswegs elementar einschränken. Gewiss, Ägypten und Sudan beziehen ob des ariden Klimas über 90 Prozent ihres Wasserbedarfs aus dem Nil. Äthiopien hingegen ist aufgrund reger Regenfälle nicht in dem Maße vom Wasser des Nils abhängig und kann seine Landwirtschaft anderweitig versorgen. Die Regierung in Addis Abeba verfolgt zudem mit dem Staudammprojekt keineswegs das Ziel mehr Nilwasser zur landwirtschaftlichen Bewässerung zu nutzen, sondern will vordergründig durch die Installation von Wasserkraftwerken die Energieproduktion ausweiten. Ägypten verfügt zudem mit dem Wasserreservoir im Lake Nasser, dem künstlichen Stausee hinter dem Assuan-Staudamm, über eine umfangreiche Wasserreserve, dessen Pegel lediglich in der Bauphase des äthiopischen Dammes sinken dürfte. Ist der Damm, der rund 40 Kilometer von der sudanesischen Grenze entsteht, erst einmalfertig gestellt, wird auch weiterhin kontinuierlich Nil-Wasser wie zuvor gen Norden fließen.
NGO’s in Kairo betonen, dass selbst im Falle eines Worst-Case-Scenarios – sprich, der Füllung des Stausees in Äthiopien in rund drei Jahren und nicht fünf oder sieben – der Pegel im Lake Nasser nicht unter die entscheidende Marke fällt, die für die Stromerzeugung in den Wasserkraftwerken notwendig wäre. Langfristig könnte den Nil-Anrainern gar mehr Wasser zur Verfügung stehen, da die Verdunstungsrate in Äthiopien temperaturbedingt deutlich niedriger ist als im Süden Ägyptens. Die Oberflächenverkleinerung des Lake Nassers würde die hiesige Verdunstung massiv reduzieren.
© Sofian Philip Naceur 2013