Die Proteste gegen das islamfeindliche B-Movie „Innocence of Muslims“ haben inzwischen fast jedes arabische Land erreicht. Nach dem Tod des US-Botschafters im ostlibyschen Benghasi hat das State Departement alle Auslandsvertretungen in Alarmbereitschaft versetzt. Inzwischen haben sich die Proteste auf den Libanon ausgeweitet, wo Demonstranten gegen den in Kürze geplanten Besuch des Papstes in der Zedernrepublik protestierten. In Khartum im Sudan wurde die deutsche Botschaft angezündet. Zudem hat das Innenministerium in Kairo offenbar seine Strategie geändert. Nach den ersten Protesten vor der US-Botschaft in Garden City am Dienstag blieb die Stimmung trotz der Erstürmung des Botschaftsgeländes durch Protestierende friedlich. Sicherheitskräfte wurden kaum aufgestockt, bis gestern erstmals Tränengas gegen Randalierer eingesetzt wurde. Inzwischen gleicht Garden City einer Festung. Die US-Vertretung ist großräumig abgesperrt und mit zahlreichen Hundertschaften umstellt. Auf einer Zufahrtstraße sind heute Nacht Betonbarrikaden errichtet worden. Jugendliche werfen mit Steinen und die Polizei feuert Tränengasgranaten. Ein Ende ist derzeit nicht abzusehen. Die Muslimbrüder haben derweil zu einer Großdemonstration aufgerufen und mehrfach betont, Proteste seien notwendig, Gewalt jedoch zu verurteilen.
Im Botschaftsviertel Garden City, rund um den Tahrir Square und in Teilen von Downtown scheinen sich die Proteste von ihrem ursprünglichen Zweck zu entfernen. Die Demonstration gegen den in den USA produzierten Streifen ist inzwischen umgeschlagen in Protesten gegen die ägyptische Staatsgewalt. Während Muslimbrüder und Salafisten den Film scharf verurteilen und die US-Regierung aufgeforderten sich zu dem Film zu äußern, riefen sie wiederholt zu Gewaltlosigkeit auf. Die jugendlichen Randalierer nutzen jedoch die Gelegenheit, um ihren Frust gegen den ägyptischen Staat zu artikulieren. Ägyptens Wirtschaft liegt am Boden, durch das revolutionsbedingte Einbrechen des Tourismussektors 2011 hat die Bevölkerung noch mehr unter der Schwäche der ägyptischen Volkswirtschaft zu leiden als zuvor. Vor allem Jugendliche blicken perspektivlos in die Zukunft und lassen ihrem Frust freien Lauf. Staatspräsident Mohamed Mursi kündigte zwar an die Arbeitsmarktpolitik zu seiner politischen Hauptaufgabe zu machen, war seit seiner Amtseinführung jedoch vielmehr damit beschäftigt, einen Machtkampf mit den mächtigen Militärs auszutragen.
Washington sucht unterdessen die aufgeladene Stimmung in der Region zu beruhigen. US-Außenministerin Hillary Clinton sagte gestern der Film sei abscheulich und verwerflich und betonte die US-Regierung lehne den Inhalt des Streifens kategorisch ab. Ein US-Diplomat fügte nach Angaben der ägyptischen Tageszeitung Egypt Independent fügte jedoch hinzu, es gebe keinen Rechtfertigung mit derartiger Gewalt auf dieses Video zu reagieren. Dennoch berichtet die ägyptische Presse von 37 Verhafteten und Dutzenden Verletzten, am Nachmittag finden sich in der Tat zahlreiche Menschen mit leichten Wunden rund um die US-Vertretung.
Noch zu Beginn der Woche hatten Salafis, Muslimbrüder und koptische Jugendgruppen zu den Protesten aufgerufen. Nachdem die ägyptische staatsnahe Tageszeitung Al-Ahram berichtet hatte, der Film sei von in den USA lebenden Kopten produziert worden, war noch befürchtet worden die Proteste könnten das angespannte Verhältnis zwischen Christen und Muslimen in Ägypten beinträchtigen und neue Auseinandersetzungen provozieren. Dennoch nahm unter anderen die Maspero Youth Union, eine koptische Jugendbewegung, aktiv an den Protesten teil, jedenfalls bis die Ausschreitungen an Schärfe zunahmen und umschlugen. Trotz öffentlicher Statements von koptischen und evangelischen Kirchen in Ägypten sowie Vertretern der Muslimbrüder, die gegenseitige Beschuldigungen im Keim ersticken sollten, befürchten Teile der koptischen Gemeinschaft auch weiterhin, dass die Affäre um den Film die Beziehungen zwischen Muslimen und Christen am Nil beschädigen könnte. Einen Monat nach sektiererischen Ausschreitungen in Dashhur in der Provinz Giza südlich von Kairo sind zwar keinerlei weitere Zwischenfälle gemeldet worden, Ägyptens christliche Minderheit ist jedoch dennoch skeptisch, dass sich die gegenseitigen Vorbehalte vor allem unter Mursi in Luft auflösen. Nachdem sich Vertreter zahlreicher koptischer Organisationen noch vor Mursis Inthronisierung zum Präsident sehr besorgt über die schleichende Islamisierung des ägyptischen Staates und der Gesellschaft durch die FJP und die Muslimbrüder geäußert hatten, ist man heute eher ungewiss, ob dem neuen Staatsoberhaupt nicht doch eine Politik gelingt, die den Charakter der ägyptischen Gesellschaft zu verteidigen weiß.
Währenddessen drohen unabhängige Gewerkschaften aus dem Bildungssektor weiterhin mit einem Generalstreik. Bereits letzte Woche hatten sich 1000 bis 2000 Menschen aus dem Bildungsbereich vor dem Parlament auf der Hauptverkehrsachse Kasr El-Aini versammelt und ab dem frühen Nachmittag den Verkehr komplett lahm gelegt. Sie fordern signifikante Erhöhungen der Bezüge, höhere Pensionen und bessere Arbeitsbedingungen. Die Proteste blieben friedlich, das Sicherheitsaufgebot vor dem Parlamentskomplex ist nicht nennenswert aufgestockt worden. Seit vergangenem Montag verblieben einige Dutzend Protestler in Zelten auf den Bürgersteigen rund um den Haupteingang zum Parlament und pflasterten die Wände an der Hauptstraße mit Transparenten zu. Auch heute versammelten sich etwa 100 Menschen vor dem Gebäude, nur einen Steinwurf vom Großaufgebot der Polizei in Garden City entfernt. Die Regierung kündigte inzwischen die Erhöhung des Bildungsbudgets und der Lehrerbezüge an und will eine Kommission einrichten, um potentielle Sparmöglichkeiten zu untersuchen. Den Gewerkschaften reicht das Angebot jedoch nicht aus, ein Streik scheint unausweichlich.
Ägyptens Staatspräsident Mursi verweilt unterdessen auf seinem ersten Auslandsbesuch in der Europäischen Union. Nach seinem Besuch in Brüssel und Konsultationen mit EU-Ratspräsident Herman van Rompuy und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso reiste Mursi heute zu einem zweitägigen Staatsbesuch weiter nach Rom. Italien ist einer der wichtigsten Handelspartner Ägyptens, die Stärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit steht demnach ganz oben auf der Liste bei den geplanten Gesprächen in Italiens Hauptstadt. Nachdem Mursi mit seinen ersten Auslandsbesuchen in Saudi-Arabien, zum Gipfeltreffen der Afrikanischen Union nach Addis Abeba und in den Iran zum Gipfel der Blockfreien Staaten ein Zeichen für die Neuausrichtung der ägyptischen Außenpolitik gesetzt hat, widmet er sich nun den Beziehungen zu Westen. Mursis Besuch in Teheran war der erste Staatsbesuch eines ägyptischen Staatsoberhauptes im Iran seit über 30 Jahren. Auch wenn der Tonfall zwischen Kairo und Teheran alles andere als harmonisch ausfällt, ist die Annäherung zwischen beiden Staaten durchaus bemerkenswert, vollzieht die von den Muslimbrüdern dominierte Regierung in Kairo eine doppelgleisige Strategie. Einerseits muss sich das neue Regime mit den USA und der EU arrangieren, ob der nach wie vor mächtigen Position von Ägyptens Generälen ist dies quasi unausweichlich. Dennoch suchen Mursi und die FJP nach außenpolitischen Wegen der Öffnung. Die Annäherung an den Iran ist hierbei der bedeutsamste Paradigmenwechsel.
© Sofian Philip Naceur 2012