Die Proteste in der arabischen Welt gegen einen in den USA produzierten Film intensivieren sich weiter. Bereits am Dienstag waren der US-Botschafter in Libyen und drei seiner Mitarbeiter im ostlibyschen Benghasi umgekommen, nachdem die Vertretung mit Mörsergranaten beschossen wurde und niederbrannte. Während die Proteste in Kairo am selben Tag angespannt aber friedlich blieben, setzten ägyptische Sicherheitskräfte heute morgen im Kairoer Stadtviertel Garden City bei Zusammenstößen mit Demonstranten Tränengas ein. Am Dienstag folgten mehrere Tausend Menschen den Aufrufen von Muslimbruderschaft, radikalen Salafisten und der koptischen Jugendorganisation Maspero Youth Union und versammelten sich vor der US-Vertretung in Garden City, um gegen den Film zu protestieren. Dabei drangen mehrere Demonstranten auf das Botschaftsgelände ein, ersetzten die US-Flagge mit einer schwarzen Fahne und sprühten Parolen an die Außenwände des Gebäudes. Die Situation blieb jedoch unter Kontrolle. Erst heute morgen eskalierten die Proteste in Kairo. Die Tageszeitung Egypt Independent berichtet von zwei brennenden Fahrzeuge der ägyptischen Sicherheitskräfte und fliegenden Steinen rund um die US-Botschaft. Zudem wurde die US-Vertretung in Sanaa im Jemen nach Protesten gegen den Film gestürmt. Auch das US-Konsulat in Berlin-Dahlem wurde nach einem verdächtigen Chemikalienfund geräumt.
Der Stein des Anstoßes, eine zweistündige Filmproduktion über den Propheten Mohammed und die Verfolgung von koptischen Christen in Ägypten, mutet dem Trailer nach zu urteilen schlicht propagandistisch an. Drehbuch, Produktion und Regie stamen allesamt von dem US-Israeli Sam Bacile, der die Produktionkosten für den Streifen bei über 100 Spendern gesammelt habe. Wie die Junge Welt in ihrer heutigen Ausgabe berichtet habe Bacile den Islam in einem Telefonat mit der Nachrichtenagentur AP als “Krebsgeschwür” bezeichnet, sein Film solle provozieren. Mit derart heftigen Reaktionen auf den Film habe er jedoch nicht gerechnet. Während die Proteste in Kairo vergleichsweise ruhig blieben eskalierte die Situation in Benghasi. Die Tatsache, dass das US-Konsulat in der ostlibyschen Stadt und Hochburg der Revolte gegen das Regime Muammar al-Ghaddafis mit Mörsergranaten beschossen wurde, legt den Schluss nahe, daß dieser Angriff nicht spontan im Zuge der sich aufgeschaukelten Demonstration entstanden ist.
Die Medienattacken in der ägyptischen Presse gegen die Aufführung des Films richteten sich anfangs noch gegen die koptische Diaspora in den USA, nachdem die staatsnahe ägyptische Tageszeitung Al-Ahram berichtet hatte, Mitglieder der koptischen Gemeinschaft in den USA seien an der Produktion des Films beteiligt. Die Online Ausgabe der Zeitung veröffentlichte heute eine Gegendarstellung und entschuldigte sich für die Verbreitung der Falschmeldung. Mehrere koptische Kirchen sowie die evangelische Gemeinde in Kairo verurteilten den Film und betonten die Inhalte des Streifens würden nicht ihren Standpunkt repräsentieren. Die christliche Jugendorganisation Maspero Youth Movement nahm an den Protesten vor der US-Botschaft in Kairo aktiv teil und ist seit dem Sturz des langjährigen Diktators Hosni Mubarak ein Eckpfeiler der zivilgesellschaftlichen Protestbewegung. Die Gruppe zählt zudem zu den schärfsten Kritikern der Muslimbuderschaft, befürchtet eine Islamisierung der Gesellschaft durch den Machtzuwachs der Freedom and Justice Party (FJP) und der Bruderschaft und steht den US-Bemühungen einer Annäherung an Staatspräsident Mohamed Mursi skeptisch gegenüber.
Fraglich bleibt, warum die Protestwelle grade jetzt über die Region hereinbricht und Gruppen wie die Muslimbruderschaft oder die Salafisten der Al-Nour Partei zu Demonstrationen aufgerufen haben, schließlich ist der 13minütige Trailer zum Film bereits im Juli veröffentlicht worden. Zumindest im Kontext der innenpolitischen Gemengelage in Ägypten erscheint die jüngste Entwicklung plausible. Nachdem Mursi den Machtkampf mit den mächtigen Militärs vorerst für sich entscheiden konnte und ihm mit der Absetzung von Verteidigungsminister Hussein Tantawi ein machtpolitischer Coup gelungen war, setzten der politische Arm der Bruderschaft, die FJP, und Mursi seither stringent auf den Ausbau ihres Einflusses im Staatsapparat. Die militärische Offensive auf dem Sinai, die nach einem Angriff auf einen ägyptischen Grenzposten Anfang August lanciert wurde, ermöglichte es Mursi zudem zahlreiche leitende Posten im Sicherheitsapparat neu zu besetzen. Kurz darauf besetzte der Präsident rund 50 Posten in staatlich kontrollierten Medienorganen neu und ernannte 10 neue Gouverneure.
Seit dem vorläufigen Ende des Machtkampfes zwischen Präsident Mursi und den Militärs und dem Reshuffle im Sicherheits- und Staatsapparat im August verloren Konservative und Salafisten jedoch die Oberhohheit über die arabische Straße. Gewerkschaftliche Proteste und Demonstrationen gegen den Machtzuwachs der FJP und der Muslimbruderschaft dominierten seither das innenpolitische Geschehen am Nil. Die Debatte um das B-Movie aus den USA ist daher ein willkommener Anlaß für die Bruderschaft und die radikalen Salafisten wieder Präsenz auf den Straßen zu zeigen. Nach den Protesten der letzten Tage rief die Muslimbruderschaft zu einer Großdemonstration am morgigen Freitag auf. Die deutsche Botschaft in Kairo verschickte bereits Sicherheitswarnungen an deutsche Institutionen und mahnt deutsche Staatsbürger zu besonderer Vorsicht. Die aufgeladene Proteststimmung in Kairo nach dem Einsatz von Tränengas heute Vormittag erhöht zweifellos erstmals seit Monaten die Gefahr gewaltsamer Ausseinanderseztungen in Ägyptens Hauptstadt.
© Sofian Philip Naceur 2012