Rein in die Nische – „Seismographic Sounds – Visions of a New World“

Von algerischem Hip-Hop bis hin zu indonesischem Heavy Metal, von Gospel aus Zimbabwe bis hin zu Grime Music aus Großbritannien. Momentaufnahmen einer sich rasend schnell verändernden Musikszene in allen Ecken der Welt geben sich die Klinke in die Hand mit vielseitigen und kontroversen Beiträgen zu Debatten rund um Filesharing und Downloading oder subkulturellen Entwicklungen von Helsinki bis Karatchi und von La Paz bis nach Tokio. Das Schweizer Netzwerk und Onlinemagazin Norient präsentiert mit „Seismographic Sounds – Visions of a New World“ eine beeindruckende Enzyklopädie, die sich musikalischen und visuellen, aber auch gesellschaftspolitischen und kulturellen Trends internationaler Nischengenres widmet. Der 500 Seiten starke Band will keine erschöpfende Aussage zum Zustand einer globalisierten Musikszene machen, sondern wartet mit genreübergreifenden Eindrücken und Stellungnahmen aus den Subkulturen dieser Welt auf (erschienen in Junge Welt am 15.1.2016).

Insbesondere in Nischengenres sei die Kreativität von Künstlern heute mannigfaltig wie niemals zuvor. Denn günstige Software und sinkende Produktionskosten seien die Motoren einer kulturellen Revolution, schreibt der Musikethnologe, Chefredakteur des Onlinemagazins von Norient und Mitherausgeber des Buches Thomas Burkhalter in der Einleitung von „Seismographic Sounds“.

Die Verfügbarkeit populärer und einfach bedienbarer Plattformen wie Soundcloud oder Youtube eröffnen Künstlern und Aktivisten neue Wege ihre Produktionen einem größeren und lokal ungebundenen Publikum zu präsentieren – mit weitreichenden Folgen für den Einfluss der Musikindustrie. Während Downloading im Westen weiterhin als illegal betrachtet wird und das Narrativ dominiert, kostenloses Filesharing schade den Künstlern, zeigt ein Beispiel aus Ghana wie wenig zeitgemäß diese Position in einem anderen politischen und gesellschaftlichen Kontext sein kann. So sei auch die aktive Nutzung gebührenpflichtiger Werbung in sozialen Netzwerken wie Facebook, die grade in eher linken Kreisen Europas als anrüchig gilt, in anderen Weltregionen unproblematisch, betont Burkhalter im Rahmen einer Podiumsdiskussion im Goethe Institut in Kairo anlässlich der Veröffentlichung des Buches Ende November. Mit großen Konzernen zu kooperieren werde in Europa als fragwürdig betrachtet, doch in anderen Weltregionen aus vielerlei Gründen anders und durchaus offener gehandhabt.

Das Konzept des Bandes wirft nicht nur multiperspektivisch ein Schlaglicht auf derlei Diskurse, sondern will ganz offensichtlich mit Traditionen der Kulturberichterstattung brechen und hebt explizit die audiovisuelle Beschaffenheit der zeitgenössischen Musikszene hervor. So dienen ausgewählte Musikvideos als Grundlage für eine kreative Mischung aus Kurzessays, Fotoreportagen, Interviews und Zitat- und Textschnipseln, die als Instrument für kontroverse Debatten innerhalb und außerhalb dieser Kunst- und Kulturszene fungieren und diese anregend und vielschichtig beleuchten. Aufgeteilt in die sechs Kapitel Money, War, Loneliness, Exotica, Desire und Belonging folgt der Band keinem klaren roten Faden, sondern präsentiert Schnappschüsse einer facettenreichen und interaktiven Musikszene, in der Grenzen keine Rolle mehr zu spielen scheinen.

Neben offensichtlich relevanten Themen wie dem Umgang mit der Musikindustrie und Geld, die im ersten Kapitel von „Seismographic Sounds“ vielseitig diskutiert werden, widmet sich das Buch auch ethischen Fragen rund um den Umgang mit dem Gegenstand des Krieges. Ein kontroverses Beispiel aus dem Buch ist die Nutzung von Audioaufnahmen der Bombardierung von Beirut während des libanesischen Bürgerkrieges. Darf man das? Ist die künstlerische Weiterverarbeitung ethisch und moralisch zu rechtfertigen? Und welche Rolle spielt Gewalt in unserer heutigen Kulturwelt überhaupt?

Kommentiert, diskutiert und illustriert von Kulturschaffenden, Journalisten, Bloggern und Wissenschaftlern aus allen Ecken der Welt setzt sich der Band insbesondere mit Nischengenres auseinander und präsentiert in ansprechendem Layout Momentaufnahmen einer Vielzahl von vergangenen, aktuellen und noch bevorstehenden Debatten. Ganz im Sinne des Anspruches von Norient. Denn das Netzwerk will sich mit verschiedenen Standpunkten aus der Musikwelt kritisch und aus verschiedenen Perspektiven nahe an den Kulturschaffenden beschäftigen und sein Publikum mit Hilfe seines Onlinemagazin, einem Musikfilmfestival sowie Vorträgen, Büchern und Ausstellungen gleichzeitig orientieren und desorientieren, heißt es auf der Internetseite von Norient.

Das Projekt, das sich auch aus der Arbeit von Norient im vergangenen Jahrzehnt speist, umfasst neben der Buchveröffentlichung auch eine Wanderausstellung, die nach ersten Terminen in Aargau in der Schweiz und in Karlsruhe ab dem 30. Januar 2016 im Rahmen des CTM-Festivals im KKB Kunstraum Kreuzberg in Berlin unter dem Titel „Seismographic Sounds – Visionen einer neuen Welt“ zu sehen sein wird.

© Sofian Philip Naceur 2016

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.