Tunesiens jüngster Wahlmarathon geht in seine entscheidende und letzte Phase. Am kommenden Sonntag stehen sich die beiden bestplatzierten Kandidaten der ersten Wahlrunde Moncef Marzouki und Béji Caïd Al-Sebsi in der Stichwahl der Präsidentschaftswahl gegenüber. Der Chef der anti-islamistischen und neoliberal ausgerichteten Partei Nidaa Tounes (Ruf Tunesiens) Al-Sebsi erreichte im ersten Durchgang des Urnengangs 39,4 Prozent der Stimmen vor seinem Herausforderer Marzouki, dem amtierenden Übergangspräsidenten des Landes und Chef der sozialdemokratischen Partei Kongress für die Republik (CPR), der mit 33,4 Prozent überraschend stark abgeschnitten hatte. Das Rennen um Tunesiens höchstes Staatsamt gilt als völlig offen (erschienen in Junge Welt am 19.12.2014).
Der Wahlkampf wurde von beiden Kandidaten entsprechend aggressiv geführt, wobei sich Marzouki und Al-Sebsi weniger inhaltliche Debatten um ihre politischen Programme lieferten als vielmehr gegenseitig scharf attackierten und um die Unterstützung anderer Parteien warben, um die Chancen auf eine Mehrheit in der bevorstehenden letzten Wahlrunde zu erhöhen. Marzouki warf seinem Gegner wiederholt vor der Kandidat des alten Regimes zu sein. Al-Sebsi diente dem 2011 gestürzten Diktator Ben Ali als Minister, während Nidaa Tounes als Sammelbecken für Ben Ali nahe stehende Kader gilt. Al-Sebsi bezeichnete Marzouki im Gegenzug als Kandidat der Islamisten und warnte eindringlich davor Marzouki ins höchsten Staatsamt zu wählen und damit der gemäßigt islamistischen Partei Ennahda politischen Einfluss auf das Amt zu erlauben.
Marzouki entstammt zwar dem sozialdemokratischen Lager, doch seine Partei CPR war nach der Wahl zum Übergangsparlament 2011 als Juniorpartner in die von Ennahda geführte Regierung eingetreten. Bis heute pflegt Marzouki gute Beziehungen zu der konservativ-islamistischen Partei, die keinen eigenen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl aufgestellt hatte. In der ersten Runde des Urnengangs hatte Al-Sebsi vor allem im Norden und den Küstenregionen massiv Stimmen auf sich vereinigen können, während Marzouki in den Hochburgen Ennahdas im Süden gewann. Ennahda hatte keine explizite Wahlempfehlung abgegeben, doch aufgrund des stark anti-islamistischen Kurses Al-Sebsis und seiner Partei wird wie schon im ersten Wahlgang erwartet, dass die Ennahda-nahe Wählerschaft Marzouki unterstützten wird.
Derweil bleibt Marzouki schlicht keine andere Wahl als auf die Unterstützung islamistischer Kräfte zu setzen, will er seine Chancen auf einen Wahlsieg am Sonntag wahren. Marzoukis Ruf im sozialdemokratischen aber auch linken Lager hatte durch seine Kooperation mit Ennahda stark gelitten. Die Volksfront, ein Bündnis von neun sozialistischen und linken Parteien, das bei den Parlamentswahlen im Oktober als viertstärkste Kraft in Tunesiens neues Parlament eingezogen war, rief ihre Anhängerschaft dazu auf Marzouki als Ennahda nahe stehenden Kandidaten zu verhindern. Die Volksfront steht nach den Morden an den beiden Linkspolitiker Mohamed Brahmi und Chokri Belaïd 2013 durch militante Islamisten mit Marzouki auf Kriegsfuß. Die Front wirft ihm politisches Versagen im Umgang mit den Morden vor, er sei nicht entschieden genug gegen die islamistische und polarisierende Politik Ennahdas vorgegangen. Die Volksfront findet sich derweil in einer delikaten strategischen Lage wieder, kommt für sie doch auch Al-Sebsi aufgrund seine Nähe zu Ben Ali und seiner wirtschaftsliberalen politischen Agenda als Präsident eigentlich nicht in Frage. Daher begnügte sich die Front mit der Ablehnung Marzoukis, der für das Bündnis derzeit schlicht das größere Übel darstellt.
Unterdessen bastelt Nidaa Tounes weiter an der Regierungsbildung. Die Partei war aus der Parlamentswahl im Oktober als stärkste Kraft hervorgegangen und dürfte Medienberichten zufolge eine Koalition mit der Freien Patriotischen Union, Afek Tounes, Al-Mubadara und einigen unabhängigen Abgeordneter eingehen, um die nötige Mehrheit in der Kammer zu erlangen. Gewinnt Al-Sebsi die anstehende Präsidentschaftswahl, würden Kader des alten Regimes sowohl die Exekutive als auch die Legislative Tunesiens kontrollieren.
© Sofian Philip Naceur 2014