„Die Revolution ist ein Lernprozess“

Fast vier Jahre sind vergangen seit Ausbruch der ägyptischen Revolution am 25. Januar 2011. 18 Monate Militärherrschaft, die islamistische Muslimbruderschaft an der Staatsspitze und eine blutige vom Militär geführte Konterrevolution haben die Uhren am Nil wieder auf Null gestellt. Wir sprachen mit einigen ägyptischen Aktivisten, die seit 2011 für einen Regimewandel kämpfen und ziehen Bilanz.

„Ich glaube an die Revolution. Wir haben heute alles verloren, aber nicht die Hoffnung“, sagt der 37jährige Dokumentarfilmer Hossam Meneai. Wir sitzen in einem Teehaus in Kairos Innenstadt. Nur einen Steinwurf entfernt befinden sich einige Cafés und Kneipen, die beliebt waren bei der revolutionären Jugend Ägyptens. Hier diskutierten und stritten sie sich offen über politische Entwicklungen im Land. Das war 2011 und 2012. Heute sind Kairos Revolutionäre vorsichtig. Politische Debatten in der Öffentlichkeit sind riskant geworden. In den Straßen wimmelt es nur so an Geheimdienstspitzeln in zivil. Denunziation gehört heute zum Alltag. Oftmals rufen Menschen die Polizei, wenn sie am Nebentisch regimekritische Äußerungen aufschnappen (erschienen in Die Wochenzeitung am 18.12.2014).

Freie Meinungsäußerung ist heute nicht mehr möglich. Regierung, Sicherheitsapparat und Justiz arbeiten Hand in Hand bei ihrem harten Vorgehen gegen die regimekritische Opposition. Willkürliche Verhaftungen und politisch motivierte Justiz sind zu wichtigen Instrumenten des Regimes geworden, um Angst unter den Revolutionären zu verbreiten und Dissidenten mundtot zu machen. Doch Meneai, der keiner politischen Bewegung angehört, aber dem linksliberalen Lager nahe steht, bleibt hoffnungsvoll. „Das Regime ist wieder an der Macht, aber unsere Generation hat die Angst überwunden. Das ist wichtig für die Zukunft“, glaubt er. „Die Schlacht haben wir verloren, aber die Revolution geht weiter. Das Regime kennt nur die Macht der Waffen“, sagt Meneai, der die Brutalität des restaurierten Regimes am eigenen Leib erfahren hat. Im Januar stürmte der gefürchtete Staatssicherheitsdienst Meneais Wohnung und verhafteten ihn. In Haft wurde er geschlagen und mit dem Tode bedroht. „Die Anklage ist im Sande verlaufen, aber wenn sie mich loswerden wollen, können sie jederzeit die Akte öffnen und mich einsperren.“ Nach dem Sturz des islamistischen den Muslimbrüdern angehörenden Expräsidenten Mohamed Mursi im Juli 2013 hat Meneai aufgehört öffentlich zu filmen, es ist zu gefährlich geworden. „Ich stamme aus Al-Arish im Nord-Sinai. Wenn ich an Checkpoints kontrolliert werde bin ich sofort verdächtig“, sagt er. Die Armee führt seit Mursis Sturz im Nord-Sinai einen Krieg gegen radikale Islamisten und legitimiert mit diesem Anti-Terror-Kampf ihr hartes Vorgehen gegen die Opposition. Menschen aus dem Sinai sind für die Polizei besonders verdächtig, Meneai bleibt vorsichtig.

„Doch Rache und Gewalt kann die Lage langfristig nicht beruhigen, das Regime hat nichts dazugelernt und reagiert heute genauso auf Regimekritik wie 2011 und davor unter Expräsident Hosni Mubarak. Wir haben dazugelernt, aber das Regime nicht. Das Militär wird die gleichen Fehler wieder machen. Sie werden wieder schießen“, so Meneai. Mina aus Oberägypten hingegen ist skeptisch wenn es um die Zukunftsperspektiven geht. „Die Revolution ist ein Lernprozess, für beide Seiten. Das Regime hat gelernt die Öffentlichkeit auf ihre Seite zu ziehen. Im Fernsehen lügt das Regime jeden Tag, Präsident Abdel Fattah Al-Sisi versucht das Volk zu verführen“, sagt Mina, der anonym bleiben möchte. Die Aktivistenszene in Oberägypten ist übersichtlicher als in Kairo oder Alexandria und derzeit verstärkt im Visier der Behörden. Fünf linke Aktivisten stehen zur Zeit vor einem Militärgericht nachdem sie bei einer regimekritischen Demonstration in Luxor in Südägypten verhaftet wurden. Mina fürchtet auch auf der Abschussliste der Behörden zu stehen und hält sich bedeckt.

Doch er glaubt nicht an eine baldige neue Welle der Revolte. „Wir müssen zuerst die Folgen der Revolution im Detail analysieren, denn das Regime evaluiert sehr wohl seine Fehler. Das müssen wir auch machen, eine neue Protestwelle bringt uns nicht weiter. Wir müssen einen Weg finden das System konsequent auszuwechseln. Wenn wir den Menschen keine Alternative aufzeigen, wird sich das System selbst erneuern“, meint er. Schon vor Ausbruch der Revolte 2011 hat Mina an der Basis gearbeitet. „Mit Workshops und Diskussionsrunden wollten wir die Menschen über Meinungsfreiheit und geschlechterrelevante Themen weiterbilden. Das alte Regime hat im Süden viel Zustimmung und die größte Oppositionskraft sind islamistische Gruppen, die Linke ist schBwach. Daher müssen wir mit der Arbeit an der Basis weitermachen und die Menschen für gewisse Themen sensibilisieren.“

Das meint auch Mahienour Al-Masry. Die 28jährige Menschenrechtsanwältin aus Alexandria gehört zu den prominenten Aktivisten aus dem linken Lager. Seit 2008 war das Mitglied der trotzkistischen Revolutionären Sozialisten mehrfach aus politischen Gründen in Haft. Zuletzt wurde sie im Mai 2014 aufgrund angeblicher Verstöße gegen das umstrittene restriktive Protestgesetz zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, kam jedoch nach einem Hungerstreik und der Aussetzung der Strafe frühzeitig auf freien Fuß. „Ich habe nach der Freilassung einen zweiten Hungerstreik angetreten. Wir müssen dem Regime zeigen, dass wir nicht käuflich sind“, sagt sie kämpferisch. Al-Masry gibt sich optimistisch und ist sicher: eine neue Welle der Revolution ist nur eine Frage der Zeit. „Aber wir müssen die politischen Entwicklungen und unsere Fehler auswerten und Fehler haben wir viele gemacht. Ich denke langfristig war das notwendig.“ Vor der Revolution habe sie mehr mit Arbeiterinnen und einfachen Menschen gearbeitet und versucht Lösungen für ihre Probleme zu finden oder Debatten anzustoßen, aber nach Beginn der Revolution 2011 habe sich der Fokus von der Basisarbeit entfernt und hin zu Protesten in die Städte verlagert. „Wir hatten die Wahl demonstrieren zu gehen oder über konkrete Probleme zu sprechen. Psychologisch ist es schlicht aufregender protestieren zu gehen als zu debattieren. Wir müssen unsere Augen wieder für die Probleme der Arbeiterinnen öffnen“, betont sie.

Vor allem für die Linke ist es schwer ihre Ideen zu vermitteln. Kritik an der Vormachtstellung der Armee ist für viele Menschen ein Tabu, ist das Militär doch in den Augen vieler die einzige das Volk repräsentierende Kraft im Land. Der wirtschaftliche Einfluss der Generäle wird ignoriert, basiert aber auf der Ausbeutung billiger Arbeitskraft. „Wir haben zu wenig Gewicht auf die wirtschaftliche Perspektive der Menschen gelegt. Nie haben wir klar gemacht, wie wir die Wirtschaft gerechter machen wollen“, betont Al-Masry. Auch habe der Revolte eine klare Vision gefehlt. „Die Menschen haben unsere Vision als die unsere betrachtet, nicht als die ihre. Wir müssen unsere Ideen deutlicher formulieren“, sagt sie. „Bekommen wir erneut die Chance das Regime zu stürzen, müssen wir anders vorgehen. Wir brauchen eine vereinigte Front aus Bewegungen und Menschen mit unterschiedlichen ideologischen Hintergründen und dem Willen eine Koalition zu bilden mit dem Ziel das System zu verändern. Wir müssen zusammenarbeiten“, betont sie. „Nach Mubaraks Sturz 2011 sind wir schnell getrennte Wege gegangen, wir haben uns gespalten, das darf nicht wieder passieren.“ Al-Masry hofft, dass der Freispruch Mubaraks Ende November als Weckruf für die Jugend fungieren wird. Denn eines Weckrufes bedarf es, um erneut die Massen zu mobilisieren. Doch heute ist Geduld gefragt.

Infokasten:
Am 25. Januar 2011 begann in Ägypten die Revolution gegen das Regime von Präsident Hosni Mubarak. Nur 18 Tage später trat der Staatschef auf Druck der landesweiten Proteste von seinem Amt zurück und übergab die Macht an den Obersten Militärrat (SCAF), das höchste Gremium der Armee. Die Proteste richteten sich zügig gegen den SCAF, der für viele ebenso wie Mubarak das alte Regime repräsentierte. Die islamistischen Muslimbrüder zog sich von den Protesten zurück und forderten Wahlen, wohl wissend, dass sie in dieser Phase die einzige politische Kraft sein würde, die demokratische Wahlen gewinnen konnte. Nach ihrem Sieg bei der Parlamentswahl 2011 gewann im Juni 2012 mit Mohamed Mursi auch der Muslimbrüder-Kandidat die Präsidentschaftswahl. Ein Jahr nach seiner Amtseinführung zogen am 30. Juni 2013 Millionen auf die Straßen und forderten seinen Rücktritt. Die Armee, die die Kampagne gegen Mursi aktiv unterstützt hatte, nutzte die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit Mursis polarisierender Politik und entmachtete ihn. Mursi wurde vor Gericht gestellt. Das Militär übernahm das Ruder, auch wenn formal ein ziviler Interimspräsident installiert wurde. Das alte Regime setzte auf die Dämonisierung der Bruderschaft und ließ tausende ihrer Sympathisanten verhaften, bevor auch die linksliberale Opposition zur Zielscheibe des Staates wurde. Auf die Annahme der neuen Verfassung, die die Vormachtstellung der Armee zementiert, folgte im Mai 2014 die Wahl Abdel Fattah Al-Sisis zum neuen Staatschef. Die Konterrevolution war damit formal abgeschlossen.

© Sofian Philip Naceur 2014