Manshiet Nasr ist mit seinen gut 500000 Einwohnern eines der größten informellen Slumviertel in Ägyptens Metropole Kairo. Auf der Zufahrtsstraße in den Süden Teil des Viertels ist das Vorankommen mühsam. Hier, am Fuße eines Hochplateaus, liegt das Müllviertel Manshiet Nasrs. Dutzende Pickups rollen langsam ins Innere des Viertels, meterhoch beladen mit Abfällen. Vereinzelt drängeln sich Eselskarren zwischen die Autos, ebenfalls beladen mit aus allen Nähten platzenden Müllsäcken. Die Straße ist nicht gepflastert, Fahrzeuge kommen nur langsam voran und fahren im Zickzack über den schlammigen Boden, um den unzähligen Schlaglöchern auszuweichen. Müll liegt am Straßenrand. Es stinkt. An der Hauptstraße reihen sich Lebensmittelläden und Cafés aneinander. In den Untergeschossen der Gebäude wird jedoch meist ein anderes Gewerbe betrieben: die Aufbereitung von Abfall. Eine alte Frau sitzt vor einem Garageneingang und sortiert Pappreste. Der Hof auf der anderen Straßenseite ist ein Lager für Blechdosen, die hier gesammelt und später gepresst werden. Die Ruine eines eingestürzten Hauses ist fast vollständig unter einem Berg an Müll verschwunden, Kinder spielen auf dem Abfallhügel. Aus vielen Häusern dringt ohrenbetäubender Maschinenlärm, meist Geräte zum Schreddern von Plastik. Manshiet Nasr ist dem Zentrum von Kairos einzigartiger Abfallwirtschaft (erschienen in Junge Welt am 22.11.2014).
Rund 90 Prozent der Bewohner in den sechs Müllviertel im Großraum Kairo sind koptische Christen. Bilder von koptischen Heiligen sind omnipräsent in den Straßen. Es gibt Moscheen im Müllbezirk Manshiet Nasrs, doch die meisten Gotteshäuser sind Kirchen. Die Zabaleen (Arabisch für Müllmenschen) entsorgen heute rund die Hälfte der täglich anfallenden Abfälle im Großraum Kairo. Mehr als 6000 Tonnen Abfälle werden jeden Tag von ihnen in den Straßen und vor den Türen der Einwohner im gesamten Stadtgebiet eingesammelt, in eines der sechs Viertel transportiert, dort geschreddert und gepresst und anschließend als Rohstoff wieder verkauft. Hier wird alles vom Haus- über Sperrmüll bis hin zu Abfällen aus Krankenhäusern per Hand sortiert und wiederverwertet. Dank der Zabaleen kann Ägyptens Hauptstadt eine Recyclingquote von 85 Prozent vorweisen. Dagegen sind Europas Quoten lächerlich gering. Selbst die Recyclingindustrie der Schweiz, die als die weltweit modernste und effektivste gilt, kommt nur auf eine Quote von 50 Prozent.
Die Zabaleen haben ein einzigartiges System etabliert und ohne staatliches Zutun die Müllentsorgung in der gesamten Stadt organisiert. Doch der Preis dafür ist hoch. Die Lebensbedingungen in den Stadtteilen sind katastrophal. Die Viertel sind informell errichtet, dass heißt meist ohne staatliche Aufsicht erbaut worden, und verfügen über keine adäquate Wasser- und Stromanbindung. Erst nach und nach wurden einige Bezirke an das öffentliche Elektrizitäts- und Wassernetz angeschlossen. Die Säuglingssterblichkeit ist hoch, Gesundheitsprobleme gehören zum Alltag. Da die Zabaleen meist ohne Schutzbekleidung arbeiten, haben sich Krankheiten wie Hepatitis C rasant verbreiten können. Es mangelt an Krankenhäusern und Schulen.
Staatlich Anerkennung
Der Müllentsorgungsmechanismus der Stadt ist einmalig, doch ist er vor allem einem Umstand geschuldet: der weit verbreiteten Armut. Doch nach jahrzehntelanger sozialer und wirtschaftlicher Ausgrenzung haben Kairos Müllmenschen zuletzt wichtige Schritte in Richtung der lange herbeigesehnten staatlichen Anerkennung gemacht. „Wir haben inzwischen 75 Unternehmen verteilt auf alle sechs Müllviertel gegründet und 25 davon arbeiten seit letztem Frühjahr offiziell mit den Lokalbehörden in Giza zusammen“, sagt Ezzat Naem Gindy, Mitbegründer und Chef der Nicht-Regierungs-Organisation (NGO) Spirit of Youth und Vorsitzender der unabhängigen Berufsgenossenschaft der Zabaleen in Kairo. Die Schlüsselfigur der langsamen Formalisierung der Zabaleen als vom Staat akzeptierter Akteur ist Dr. Laila Iskander, die amtierende Ministerin für urbane Entwicklung. „Sie hat die Reformierung der Müllwirtschaft in Kairo zur Priorität erklärt, nachdem sie im Sommer 2013 zur Umweltministerin ernannt wurde“, betont Gindy. Gizas Gouverneur habe sich auf Druck Iskanders darauf eingelassen die Zabaleen mit der Müllbeseitigung in drei Stadtvierteln in Giza zu beauftragen. Doch es knirscht noch im Gebälk, schließlich lassen sich solche Reformen nicht über Nacht fehlerfrei in die Tat umsetzen. „Probleme gibt es bei der Bezahlung. Es müssen immer wieder Beamte bestochen werden, damit sie in ihren Kontrollberichten festhalten, dass die Arbeit auch vertragsgemäß durchgeführt wurde“, sagt Gindy. Denn ohne grünes Licht von der Behörde werden die Zabaleen für ihre Arbeit nicht bezahlt und müssen mit dem auskommen, was sie aus dem Wertstoffverkauf oder der Schweinezucht einnehmen. Dennoch: „Wir haben eine wichtige Etappe erreicht“, betont Gindy. Denn bisher war die Müllentsorgung der Zabaleen informell organisiert. Sie waren weder vom Staat anerkannt noch wurden sie von diesem unterstützt oder für ihre Arbeit entlohnt und kämpfen seit Jahrzehnten für ihre Rechte. Erst seit rund zwei Jahren geht es langsam bergauf.
Doch der Weg dorthin jedoch war steinig und lang. Gindys Großvater, ein einfacher Bauer aus Oberägypten, zog in den 1950ern gemeinsam mit tausenden koptischen Familien aus Assiut nach Kairo. Die Landreform von Präsident Gamal Abdel Nassers hatte unzählige Menschen auf der Suche nach Arbeit in die urbanen Zentren Ägyptens getrieben. Viele Christen siedelten sich mit ihrer Schweinezucht in Sharbeya in Nord-Kairo an und wurden bald von den wahayas (Arabisch: Menschen aus den Oasen) als Müllsammler angeworben.
Die wahayas waren selbst erst in den 1920er Jahren aus Bahareya in der westlichen Wüste in die Hauptstadt gekommen und hatten seither die Abfallentsorgung in Kairo organisiert. Sie bezahlten Hausbesitzer für das Recht in den Gebäuden den Abfall einsammeln zu dürfen und erhoben von den Hausbewohner eine Gebühr für die Abfallentsorgung. Den damals ausnahmslos organischen Müll kippten sie in die Wüste, warteten bis er von der Sonne getrocknet war und verkauften ihn als Brennstoff an öffentliche Bäder und Bäckereien, die damit ihre Öfen anfeuerten, erzählt Gindy. Doch als diese mehrheitlich auf Heizöl umstiegen, brauchten die wahayas ein neues Geschäftsmodell – und wurden fündig. Zunächst verkauften sie die Abfälle an christliche Familien, die an sich an den Stadträndern angesiedelt hatten und mit den Abfällen ihre Schweine fütterten, doch wenig später verkauften sie das Recht den Müll vor den Wohnungen einsammeln zu dürfen an die Kopten. Diese übernahmen das operative Geschäft, während die wahayas als Subunternehmer auftreten und so seither doppelt kassieren; einmal eine Gebühr von den Haushalten und eine von den Zabaleen.
Dieser informelle Neofeudalismus hat sich bis heute partiell gehalten. Die wahayas kontrollieren noch heute einen wesentlichen Teil der Haushalte und lassen sich für das Recht dort den Müll einzusammeln bezahlen, während die Zabaleen die ganze Arbeit verrichten. Neben den 25 Zabaleen-Unternehmen, hat die Provinz Giza auch 15 wahaya-Firmen mit Verträgen ausgestattet, die wiederum Zabaleen angestellt haben und damit ihre Funktion als Mittelsmänner aufrecht erhalten konnten. „Aber nicht nur das, der Staat hat uns mehrfach aus unseren Siedlungen vertrieben“, sagt Gindy. Nach wenigen Jahren mussten die Zabaleen ihr Domizil in Sharbeya aufgeben. Anwohner beschwerten sich über die Schweinezucht und die stinkenden Abfallberge. In Imbaba, heute ein riesiges teils immer noch informelles Viertel in Giza, haben die Zabaleen diesmal das Land gepachtet als sie sich niederließen, doch auch hier mussten sie Anfang der 1970er Jahre ihre Sachen packen. Die Regierung brauchte die Fläche als Bauland. Kairos Müllsammler teilten sich damals auf. Einige zogen nur wenige Kilometer weiter und gründeten Moytamedia, heute Gizas einziges Müllviertel. Der Großteil jedoch siedelte fortan am Fuße des Hochplateaus Moqattam und gründete Manshiet Nasr.
Mülltrennung in Kairo
Wir sitzen im Empfangsraum der Hauptsitzes von Spirit of Youth am Rande von Manshiet Nasr, allein und im dunkeln. Ein Stromausfall habe die Arbeit unterbrochen, das Personal sei nach Hause gegangen oder wieder zurück nach Dokki, Agouza oder Imbaba, den drei Stadtviertels Gizas, in denen die Zabaleen-Firmen offiziell für die Müllbeseitigung zuständig sind, sagt Gindy. „Wir machen dort derzeit Aufklärungskampagnen, um die Bewohner davon zu überzeugen zukünftig ihren Müll zu trennen, ein Beutel für organische Abfälle und einer für den Rest.“ Dies werde, so hofft er, einerseits die Arbeit der Zabaleen erleichtern, da sie nicht mehr alles per Hand sortieren müssen und zudem die Erlöse aus dem Verkauf der Wertstoffe erhöhen.
Nutzen könnte dies Organisationen wie der Association for the Protection of the Environment (APE), einer weiteren NGO, die seit 1984 im Müllbezirk Manshiet Nasrs aktiv ist. „Für die Handarbeiten, die wir bei der APE herstellen, brauchen wir sauberes Papier und saubere Stoffe. Daher können wir die von den Zabaleen angebotenen Pappen und Textilien nicht gebrauchen“, sagt Bekhit Mettry, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit bei APE. Die Organisation betreibt eine Schule, Nähstuben und Textilwerkstätten. Hier lernen vor allem Frauen verschiedene Handwerke, um dann unabhängig produzieren zu können. Die NGO will Jobs schaffen. Rund 400 Frauen produzieren inzwischen nach einer kurzen Ausbildung für die APE und lassen ihre Waren von der Organisation vertreiben. „Wir stellen aus Papierresten Schmuck her, aber auch Büroutensilien und Postkarten und dafür sind die verdreckten Papierreste nicht brauchbar“, so Mettry. „Stattdessen nehmen wir Reste von großen Fabriken, die diese sonst wegwerfen würden.“
Schweinezucht am Nil
Wir verlassen das ruhige und gepflegte Gelände der APE. Vor seinem Elternhaus bleibt Mettry stehen, grüßt einige Bekannte und deutet auf einen Papierhäcksler, der in einem Hauseingang vor sich hin brummt. Diese und andere Maschinen hat APE in einer kleinen Fabrik nahe des Müllviertels Tora im Süden Kairos bauen lassen. „Die Maschinen sollen den Menschen bei der Arbeit helfen. Die Qualität der Wertstoffe wird besser durch maschinelles Pressen oder Schreddern“, sagt Mettry. Doch der NGO sind die Spenden für das Projekt ausgegangen, daher konzentriert sich APE derzeit wieder auf Bildungsarbeit und die Schaffung von Jobs.
Nur wenige Meter weiter streiten sich einige Männer. Ein mit Abfällen beladener Pickup drückt pausenlos auf die Hupe und will weiter, doch ein anderer Transporter versperrt die enge Gasse. Auf dessen Ladefläche stehen dicht gedrängt ein dutzend Schweine und werden in einen Hinterhof getrieben. Seit der Revolution 2011 werden in Kairos Müllvierteln wieder Schweine gezüchtet. Ägyptens Landwirtschaftsministerium ließ 2009 nach Ausbruch der Schweinegrippe landesweit hunderttausende Schweine keilen, doch der Ausbruch der Krankheit war in Ägypten nicht nachgewiesen und das Virus ist nicht von Tier zu Mensch übertragbar. Offiziellen Zahlen zufolge wurden dennoch 300000 Schweine erlegt, aber Gindy meint es waren mindestens doppelt so viele. Die Regierung sei damals vor den Islamisten eingeknickt und habe die Gelegenheit genutzt sich der bei vielen Muslimen verhassten Schweinezucht der Kopten im Land entledigen zu können.
Die Zabaleen verloren damit über Nacht rund zwei Drittel ihres Einkommens, die der Verkauf der Schweine deutlich mehr Erlös einbrachte als der Verkauf von Wertstoffen. Die Schlachtbetriebe wurden geschlossen, doch heute gibt es wieder Schweine in Kairo. 60000 Tiere soll es in Manshiet Nasr geben. Geschlachtet wird diesmal in kleinen Betrieben. Dadurch hat sich der Erlös der Züchter pro Kilo fast verdoppelt. Dennoch, das Einkommensniveau von vor 2009 haben sie noch nicht wieder erreicht. Aber es geht aufwärts, auch da der Staat endlich auf den Missstand in der Abfallwirtschaft regiert hat und Zabaleen-Firmen formal anerkennt.
Dabei hatte die Regierung alles versucht, um sich nicht auf eine Kooperation mit ihnen einzulassen. 2003 beauftragte die Regierung vier europäische Müllentsorgungsunternehmen mit dem Abfallmanagement, doch das Projekt schlug fehl. Die Versorger kamen mit ihren großen Fahrzeugen oft nicht durch die kleinen Gassen und ließen daraufhin Müllcontainer aufstellen, in der Hoffnung die Menschen würden zukünftig ihren Müll dort abladen. Doch jahrzehntelang hatten die Zabaleen den Müll direkt vor den Wohnungstüren eingesammelt. Die Container wurden nicht genutzt und die Firmen leerten diese nur selten. Auch schafften die Firmen nie die vertraglich festgelegte Recyclingquote von 20 Prozent. Nach der Schweinekeilung ertrank die Stadt zudem im Biomüll, da es keine funktionierende Alternative zu den Schweinen gab, die organische Abfälle tonnenweise entsorgt hatten. Heute operiert nur noch eines der vier Unternehmen in Kairo, Giza hat die ausgelaufenen Verträge nicht erneuert und versucht es nun mit den Zabaleen.
Fraglich bleibt aber wie lange die Zabaleen noch eine Fürsprecherin in der Regierung sitzen haben werden. Iskander war im Sommer 2014 vom Umwelt- ins Planungsministerium gewechselt, doch im Winter stehen Parlamentswahlen an und Gindy rechnet nicht damit, dass Iskander im Amt bestätigt wird. Bis dahin jedoch macht sie weiter. Bei ihrem Ressortwechsel hat sie die Verantwortung für die Müllentsorgung vom Umwelt- ins Planungsministerium überführt und kümmert sich seither nicht nur um die Formalisierung der Zabaleen, sondern macht auch Gelder für die Entwicklung informeller Viertel locker. Seither hat die Regierung einige Initiativen angestoßen, die für Mülltrennung werben und die Müllentsorgung im Land reformieren sollen. Erste Schritte in die richige Richtung sind vollzogen, doch die Zabaleen werden weiter kämpfen müssen.
© Sofian Philip Naceur 2014