Ägypten bereitet sich erneut auf den Jahrestag eines Massakers vor. Während die ägyptische Regierung ihre Sicherheitskräfte in Alarmbereitschaft versetzte, rief die Muslimbruderschaft für den ersten Jahrestag der gewaltsamen Auflösung ihrer Protestcamps an der Rabaa al-Adawija Moschee in Nasr City und dem Nahda-Platz in Giza zu landesweiten Demonstrationen auf. Anhänger der Bruderschaft hatten in Rabaa und Nahda rund sechs Wochen lang gegen die in ihren Augen illegitime Absetzung des islamistischen der Bruderschaft nahe stehenden Präsidenten Ägyptens Mohamed Mursi am 3. Juli 2013 protestiert. Am frühen Morgen des 14. August begannen ägyptische Sicherheitskräfte mit der gewaltsamen Räumung der beiden Protestlager. Die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bezeichnete die brutale Räumung der Camps als den „schwerwiegendsten Fall unrechtmäßiger Massentötungen in Ägyptens moderner Geschichte.“ (erschienen in Junge Welt am 15.8.2014).
Während die Muslimbruderschaft den Jahrestag symbolisch zu nutzten weiß, um ihre Opferrolle zu pflegen und erneut ihr Fußvolk auf die Straßen zu schicken, betreibt auch das restaurierte vom Militär dominierte alte Regime Symbolpolitik. „In einer der größten Schlachten der Geschichte gegen den Terrorismus haben Polizisten ihr Leben geopfert, um Ägypten zu beschützen“, sagte der Sprecher des Innenministeriums Hany Abdel Latif am Samstag in Kairo. Er bezeichnete die geräumten Protestlager als „Verbrechen im Herzen der Hauptstadt“ und betonte die Regierung habe von Beginn an versucht die Situation gewaltfrei in den Griff zu bekommen. Ägyptens Polizei werde heute der getöteten Kollegen gedenken. Weiterhin kündigte Abdel Latif an das Innenministerium werde gegen jede Gesetzesüberschreitung während des Jahrestag hart vorgehen.
Derweil geht Ägyptens Staatsapparat weiter gegen die Muslimbrüder und ihre Unterorganisationen vor. Erst vergangene Woche hatte das höchste Verwaltungsgericht am Nil den politischen Arm der Bruderschaf, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), auflösen lassen. Im Zuge der staatlich geführten Kampagne gegen die Muslimbrüder ist damit kurz vor den Parlamentswahlen auch die politische Partei der Islamisten vorerst kaltgestellt worden. Begründet wurde das Urteil mit Verstößen gegen das Parteiengesetz. So seien rund 80 Prozent der FJP-Gründungsmitglieder auch Mitglieder der als Terrorvereinigung deklarierten Bruderschaft gewesen. Zudem hätten FJP-Politiker offen zur Gewalt aufgerufen, hieß in der Urteilsbegründung. Auf ihrer Website bezeichnete die FJP das Urteil als „politisch motiviert“ und als „Fortsetzung der Konterrevolution“.
Human Rights Watch-Affäre am Nil
Die Veröffentlichung eines Berichtes der US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) über die gewaltsame Auflösung der Protestcamps der Muslimbruderschaft im Juli 2013 durch das Militär sorgt in Ägypten derzeit für Zündstoff. Am Montag verweigerten Ägyptens Behörden HRW-Geschäftsführer Kenneth Roth und der HRW-Direktorin für die Region Nahost Sarah Leah Whitson die Einreise am Flughafen in Kairo. Beide sollten den Bericht am Dienstag in Kairo offiziell vorstellen. Dies sei das erste Mal, dass Mitarbeitern der Organisation die Einreise nach Ägypten verwehrt würde, heißt es in einer Stellungsnahme von HRW. Der Bericht „Alles nach Plan: Das Rabaa-Massaker und Massentötungen von Demonstranten in Ägypten“ spricht von mindestens 817 getöteten Protestlern während der Auflösung der beiden Protestlager an der Rabaa al-Adawija Moschee in Nasr City und am Nahda-Platz an der Universität von Kairo in Giza am 14. August 2013, geht jedoch von weit höheren Zahlen aus. Ägyptens Regierung spricht von nur 648 Getöteten, inklusive 114 Polizeikräften. Whitson widerspricht diesen Zahlen und geht von nur acht getöteten Polizeibeamten aus.
HRW wirft Ägyptens Sicherheitsapparat schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen vor. Die Brutalität der Sicherheitskräfte bei der Auflösung der Protestlager der Muslimbrüder sei systematisch gewesen und könne daher „sehr wahrscheinlich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet werden. Ägyptens Regierung wies die jüngsten Vorwürfe kategorisch zurück und nannte den HRW-Bericht „unausgewogen und befangen“. HRW ignoriere die landesweiten Attacken von Anhängern der Muslimbrüder im Juli und August 2013 auf Polizeistationen, andere staatliche Einrichtungen und Kirchen. In einer Stellungsnahme bescheinigt Ägyptens Regierung HRW einen Mangel an Professionalität und betont ferner, die Organisation habe keinerlei behördliche Erlaubnis operativ im Land tätig zu sein. Die Behinderung der Arbeit von HRW in Ägypten durch die Regierung und die Behörden sei nie derart ausgeprägt gewesen, hieß es bei HRW.
© Sofian Philip Naceur 2014