„Wir wollen nur noch weg aus Ägypten, so schnell wie möglich und egal wohin“, sagt die 35 jährige Sara aus Damaskus. Gemeinsam mit ihren zwei Kindern stieg sie Anfang 2013 in ein Flugzeug nach Kairo und floh aus Syrien. Ihr Mann war kurz zuvor verhaftet worden, konnte sich jedoch nach Jordanien retten. Saras Einreise nach Ägypten verlief damals problemlos, auch eine Wohnung und Arbeit fand sie schnell. Wie viele andere Flüchtlinge aus Syrien zog sie nach 6. Oktober Stadt, eine in den 1990er Jahren aus dem Boden gestampfte Satellitenstadt rund 40 Kilometer westlich von Kairo und begann in einer Näherei zu arbeiten. Zehntausende syrische Staatsangehörigkeit haben sich hier seit Beginn des Krieges in Syrien 2011 angesiedelt, fanden dort Unterschlupf, Hilfe und Arbeit. Doch heute, drei Jahre nach Kriegsbeginn und fast ein Jahr nach dem Sturz von Ägyptens Staatspräsident Mohamed Mursi, ist alles anders und am Nil gestrandete syrische Flüchtlinge versuchen mit aller Kraft das Land zu verlassen. Zu gefährlich ist das Leben für Syrer in Ägypten geworden (erschienen in Junge Welt am 26.5.2014). Von Mohamad Hassan Mansouri und Sofian Philip Naceur
Dabei war Ägypten zu Beginn des blutigen Konfliktes in Syrien zwischen den Truppen des Regimes Bashar Al Assads und den zahlreichen bewaffneten Oppositionsmilizen ein bevorzugtes Ziel für Flüchtlinge. Menschen aus Syrien waren willkommen am Nil. Sie brauchten kein Visum, ihr Pass wurde bei der Einreise gestempelt und gegen Vorlage eines Miet- oder Arbeitsvertrages oder einer Studienbescheinigung war die Erneuerung des Stempels und damit der Aufenthaltsgenehmigung reine Formsache. Arbeit zu finden war einfach, trotz der schon damals angespannten Wirtschaftslage in Ägypten. Die Regierung in Kairo legte Flüchtlingen aus Syrien keine Steine in den Weg und behandelte sie nicht wie Flüchtlinge aus Ost- oder Westafrika, die in Ägypten keine staatliche Unterstützung erhalten und ausufernder Polizeiwillkür ausgesetzt sind. Menschen aus Syrien und Sudan gehörten zudem zu den einzigen Flüchtlings- oder Migrantengruppen, die ihre Kinder in staatlichen Schulen unterbringen konnten, während Kindern aus Eritrea oder Äthiopien der Zugang zum staatlichen Schul- und Gesundheitssystem versperrt ist. Ägyptens Exekutive schert sich nicht um die Grundsätze der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, die das Land unterzeichnet und ratifiziert hat, und ignoriert das für Flüchtlinge so wichtige Dokument und die damit einhergehenden Verpflichtungen. Aber für Menschen aus Syrien war Ägypten dennoch lange Zeit ein willkommener Hafen.
Anders als in Jordanien, der Türkei und dem Libanon gibt es in Ägypten keine Flüchtlingslager. Das einzige Flüchtlingslager auf ägyptischem Boden ist das Flüchtlingscamp Saloum im Westen des Landes nahe der libyschen Grenze. Das Lager war vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) während des Bürgerkrieges in Libyen aufgebaut worden, doch sind die meisten Menschen aus Libyen inzwischen in ihre Heimat zurückgekehrt. Das Camp soll im Juni 2014 geschlossen werden. Flüchtlingen in Ägypten bleibt die Qual eines Lebens in abgeschotteten Lagern erspart. Doch heute, elf Monate nach dem Sturz des aus den Reihen der islamistischen Muslimbruderschaft stammenden Ex-Präsidenten Ägyptens Mohamed Mursi, hat sich für syrische Flüchtlinge, aber auch Migranten aus anderen Ländern, die Situation drastisch verändert. Vorbei ist die Zeit, in denen Syrer ihre Kinder in staatlichen Schulen sicher wussten. Vorbei ist die Zeit, in der Syrer problemlos ihre Aufenthaltspapiere erneuern konnten und vorbei ist die Zeit, in der Syrer von der ägyptischen Bevölkerung mit offenen Armen empfangen wurden. Heute haben Menschen syrischer Herkunft Angst auf die Straße zu gehen, sie haben Angst verhaftet, inhaftiert und abgeschoben zu werden und sie haben Angst auf offener Straße als Syrer erkannt zu werden und dem grassierenden Rassismus der ägyptischen Bevölkerung ausgesetzt zu sein. Syrische Flüchtlinge wollen meist nur noch weg aus Ägypten.
Anfangs war alles noch in Ordnung, doch nach der Absetzung Mohamed Mursis hat sich alles verändert“, sagt Mohamed. Er gehörte zu den ersten Flüchtlingen aus Syrien, die im März 2011 das Land verließen und in die Nachbarländer flohen. Mohamed hat in Syriens Hauptstadt Damaskus englische Literatur studiert. Als die ersten Proteste in seiner Heimatstadt Dera’a begannen, reiste er in die Stadt im Süden des Landes und begann auf Demonstrationen zu filmen und Fotos zu machen. Mohamed, der wie Sara seinen Namen nicht in der Presse lesen möchte, wurde ins Gesicht geschossen. Er hatte Glück. Die Kugel trat an seiner Lippe ein und an der Wange wieder aus, die Kugel hatte sein Auge knapp verfehlt. Doch in ein Krankenhaus konnte er nicht gehen, da syrische Soldaten in Krankenhäusern nach Verwundeten suchten und diese standrechtlich exekutierten. Er tauchte bei Freunden unter und ließ sich von einer Krankenschwester notdürftig versorgen. Mit einem Kopftuch vermummt reiste er schließlich nach Damaskus und wurde erst bei der letzten Kontrolle am Flughafen gezwungen sein Tuch abzunehmen. „Die Beamten sahen die Verletzungen in meinem Gesicht und glaubten mir nicht. Sie wussten, dass ich auf einer Demonstration verwundet wurde, aber da ich nicht zu den vom Staat gesuchten Oppositionellen gehörte, ließen sie sich bestechen und ich konnte ins Flugzeug nach Kairo steigen“, sagt Mohamed erleichtert. Er reiste zu Freunden nach Oberägypten, bevor er in Kairo medizinisch behandelt wurde. Vier Operationen waren nötig, um Gesicht und Gebiss wiederherzustellen. Heute kann er den Mund wieder öffnen, sprechen und essen. Nur die Narbe in seinem Gesicht wird bleiben.
Am 3. Juli 2013 trat Ägyptens damaliger Verteidigungsminister und heutiger aussichtsreichster Anwärter auf das Amt des Präsidenten Abdel Fattah El Sisi vor die Kameras und verkündete den demokratisch gewählten Präsidenten des Landes Mohamed Mursi für abgesetzt. Wenige Tage später begann dessen Anhängerschaft randalierend durch die Straßen zu ziehen und auch das Militär legte seine Maske ab. Ägyptens Armee und die für ihre Rücksichtslosigkeit bekannten Hundertschaften der Polizei tauschten dieser Tage Schrotkugeln gegen scharfe Munition ein. Der Damm brach, die Gewalt am Nil eskalierte. Rund eine Woche nach Mursis Absetzung erlebte das Land das erste Massaker unter der Übergangsregierung. Tausende Anhänger der Muslimbrüder und Gegner des faktischen Staatsstreichs waren zum Hauptquartier der Republikanischen Garden, einer Sondereinheit der ägyptischen Armee zum Schutz von Ägyptens Hauptstadt, im Osten Kairos gezogen und protestierten gegen Mursis Absetzung. Die Armee fackelte nicht lange und eröffnete das Feuer. Rund 50 Menschen wurden bei der gewaltsamen Konfrontation getötet, hunderte Demonstranten verletzt.
„An diesem Abend trat ein Sprecher des Militärs vor die Kameras und behauptete Syrer und Palästinenser, die gemeinsam mit Anhängern der Bruderschaft demonstriert hatten, wären mit Schusswaffen auf Soldaten losgegangen. Der Armee-Sprecher sagte das Militär hätte sich lediglich verteidigt“, erinnert sich Mohamed. Seither sind syrische Flüchtlinge und Palästinenser nicht mehr sicher in Ägypten. Willkürliche Verhaftungen und Abschiebungen, ausufernde Polizeigewalt, die Weigerung der Grenzpolizei Syrer ins Land zu lassen und rassistische Übergriffe aus der Bevölkerung gehören seit dem Massaker vor dem Sitz der Republikanischen Garde zum Alltag von Flüchtlingen aus Syrien und anderen Staaten. Sowohl die Staatspresse als auch private Medien schlossen sich der Hetzkampagne gegen Syrer und Palästinenser an und machten fortan Stimmung gegen sie. Boykottaufrufe gegen syrische Geschäfte oder Cafés wurden lanciert. Selbst vor offenen Aufrufen zu Gewalt schreckten Journalisten und ägyptische Politiker nicht mehr zurück. Menschen aus Syrien und Palästina wurden pauschal mit den Muslimbrüdern und Mursi in Verbindung gebracht und gelten bei vielen Menschen in Ägypten seither als Staatsfeinde und „Terroristen“. Die Bruderschaft wurde im Dezember 2013 von der Regierung als „Terrorvereinigung“ eingestuft und ihre Mitglieder und Sympathisanten von Polizei und Justiz entsprechend verfolgt. Syrer sitzen ungewollt mit im Boot, bekommen den Hass Vieler gegen die Muslimbruderschaft zu spüren und müssen als Sündenbock herhalten. Richtig ist: die Regierung Mursi stand Teilen der syrischen Opposition nahe und hatte die syrische Botschaft in Kairo schließen lassen, während die Übergangsregierung Ägyptens den Aufstand in Syrien lieber zugunsten des Regimes Assad beendet wissen will. Syriens Botschaft wurde nach Mursis Sturz wieder geöffnet, ein neuer Botschafter nach Kairo entsandt.
Die Lage syrische Flüchtlinge am Nil hatte sich erst schrittweise und dann rasant verschlechtert. Unter der Regentschaft des Obersten Militärrates von Februar 2011 bis Juni 2012 habe noch keiner nach gültigen Visa im Pass gefragt, sagt Mohamed. Während Mursi an der Macht war begannen Polizei und Armee zunehmend an Checkpoints Aufenthaltsdokumente zu überprüfen. Die Einreisevisa vieler Syrer waren oft abgelaufen, da es zunehmend schwieriger wurde die für eine Erneuerung nötigen Miet- oder Arbeitsverträge vorzulegen. Doch wurde man von den Beamten lediglich ermahnt und immer wieder laufen gelassen, Verhaftungen gab es keine. Dann kam der 3. Juli. Eine der ersten Maßnahmen der Interimsregierung war die Einführung einer allgemeinen Visapflicht für syrische Staatsangehörige mit der Folge, dass syrischen Flüchtlingen seither die Einreise verwehrt wird. Ägyptens Behörden begannen Syrer an den Flughäfen zu verhaften, zu internieren und abzuschieben. Wie die ägyptische Tageszeitung Al Masry Al Youm berichtet, wurde am 8. Juli 2013 gar ein gesamtes Flugzeug der Syrian Airlines nach der Landung gezwungen ins syrische Latakia zurückzukehren. Die faktische Abschiebung aller 95 Passagiere wurde von der Flughafensicherheit am Kairoer Flughafen mit neuen Visabestimmungen begründet. Am gleichen Tag verweigerte die Grenzpolizei weiteren 55 Menschen aus Syrien, die in einer Maschine der Middle East Airlines aus Beirut Kairo erreichten, ebenfalls die Einreise.
Seither sind Ägyptens Grenzen für syrische Staatsbürger geschlossen und denjenigen, die bereits in Ägypten sind, wird unmissverständlich vor Auge geführt, dass sie unerwünscht sind. Verhaftungen, oft monatelange Gefängnisaufenthalte und Abschiebungen sind am Nil zur Normalität für Syrer geworden. Weiter verschärft hatte sich die Situation für Syrer nach der gewaltsamen Auflösung der Protestcamps der Muslimbrüder an der Rabaa Al Adawija Moschee in Nasr City im Osten Kairos und an der Universität von Kairo in Giza, bei der an nur einem Tag rund 1000 Menschen getötet wurden. Die Interimsregierung verhängte am selben Tag den Notstand und eine nächtliche Ausgangssperre. Bis Mitte November 2013 dominierten Armee-Checkpoints das Straßenbild, die vor allem für Syrer nicht folgenlos blieben. „Wenn Menschen mit syrischem Pass an einem Checkpoint kontrolliert wurden, war ihre Verhaftung und meist ihre Abschiebung unausweichlich. Flüchtlinge, denen die Abschiebungen droht, bleiben oft solange in Haft, bis sie das Geld für ein Flugticket aufgetrieben haben. Können sie das Ticket in die Türkei oder den Libanon nicht bezahlen, werden sie von ägyptischen Behörden nach Syrien zurückgeschickt“, so Mohamed. Allein im Juli soll es 1000 Abschiebungen gegeben haben, fügt er hinzu. Menschenrechtsorganisation wie Amnesty International oder Human Rights Watch (HRW) berichten seit Juli immer wieder über den Umgang ägyptischer Behörden mit Flüchtlingen aus Syrien oder Palästina und riefen die Regierung wiederholt auf willkürliche Verhaftungen und Abschiebungen unverzüglich einzustellen und sich an die von Ägypten ratifizierte Genfer Flüchtlingskonvention zu halten.
Das 1951 verabschiedete und 1954 in Kraft getretene Dokument erkennt Menschen als Flüchtlinge an, wenn sie aufgrund ihrer ethnischen oder sozialen Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität sowie ihrer politischen Überzeugung in ihrem Heimatland verfolgt werden. Die Konvention erlaubt ferner Straffreiheit bei illegaler Einreise, sofern der Flüchtling sich umgehend bei den Behörde des Landes, in dem er oder sie Unterschlupf gefunden hat, angemeldet hat. Eines der wichtigsten Grundsätze der Genfer Konvention ist jedoch das Non-Refoulment-Gebot, das Prinzip der Nichtzurückweisung. Artikel 33 der Genfer Konvention untersagt die Rückführung von Personen in Länder, in denen ihnen Folter oder andere Menschenrechtsverstöße drohen.
Ägypten unterliegt folglich als Unterzeichner der Konvention den darin enthaltenen Grundsätzen, ignoriert diese jedoch konsequent. Das Land verweigert Flüchtlingen die rechtliche Anerkennung und staatliche Hilfe und hat wiederholt gegen das Non-Refoulment-Gebot verstoßen, auch im Falle von Personen aus Syrien, die teilweise sogar nach Syrien selbst zurückgeschickt wurden. Zudem sind insbesondere Syrer von willkürlichen Verhaftungen, außergerichtlichen Internierungen und Abschiebungen betroffen. HRW berichtete im Herbst 2013 von rund 1500 inhaftierten Syrern, von denen mehrere Dutzend nach Syrien deportiert wurden. In der Regel lautet die Anklage auf illegale Ein- oder Ausreise. Weiterhin dokumentierte HRW im November 2013 mindestens 615 Fälle inhaftierter und wegen illegaler Einreise angeklagter Syrer, in denen die Anklage fallen gelassen und ihre Freilassung angeordnet wurde. Die Sicherheitsbehörden reagierte auf die Einstellung der Verfahren jedoch keineswegs und verweigerten in allen 615 Fällen die Freilassung. Erst massiver Druck von Menschenrechtsorganisationen und der Vereinten Nationen bewirkte die Freilassung einiger Inhaftierter.
Das ägyptische Außenministerium bestritt im Oktober, dass die Regierung offiziell das Ziel verfolge Syrer zu deportieren und nur aus der Haft zu entlassen, wenn sie freiwillig ausreisen. Die Praxis sieht jedoch anders aus. Mindestens 1300 Syrer wurden durch verlängerte Haft genötigt das Land zu verlassen. Nur rund zehn Prozent der verhafteten Syrer würden letztendlich freigelassen, heißt es beim UNHCR. Sowohl andauernde Verhaftungen und Polizeiwillkür als auch der grassierende Rassismus treiben zudem inzwischen immer mehr Syrer dazu das Land zu verlassen. Wer es sich leisten kann reist auf konventionellem Wege aus. „Vor allem in 6. Oktober Stadt waren die Reiseagenturen im Herbst und Winter 2013 total überbucht, Menschen aus Syrien haben fluchtartig das Land verlassen“, sagt Mohamed. Erschwerend für Flüchtlinge kommt die kriselnde Wirtschaft am Nil hinzu. Der Arbeitsmarkt ist überlaufen, Ägyptens Währung liegt am Boden und die Inflation hat die Preise für Lebensmittel explodieren lassen. Wer keine Anlaufstelle in einem anderen Land finden kann, wagt die gefährliche Überfahrt nach Europa. Nach mehreren tödlichen Bootsunglücken vor der Mittelmeerinsel Lampedusa sind die Preise für die Überfahrten zuletzt stark gesunken und haben immer mehr syrische Flüchtlinge dazu bewegt Ägypten per Boot zu verlassen.
Dem UNHCR und Menschenrechtsorganisationen sind zudem oft die Hände gebunden, am ehesten helfe man inhaftierten Flüchtlingen aus Syrien noch, indem man ihnen ein Flugticket bezahle, damit Ägypten sie in die Türkei oder den Libanon ausreisen lasse, heißt es bei HRW. Eine Lösung ist dies jedoch gewiss nicht für die 136000 beim UNHCR offiziell registrierten syrischen Flüchtlinge. Insgesamt wird die Zahl der Flüchtlinge aus Syrien auf rund 300000 geschätzt und ist damit deutlich niedriger als in Syriens Nachbarstaaten. Rund die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist auf der Flucht, die meisten davon sind als Binnenflüchtlinge nach wie vor in Syrien. Die Türkei und der Libanon halten ihre Grenze nach wie vor offen. Allein in der türkischen Provinz Gaziantep sollen sich rund 400000 Flüchtlinge aufhalten, im ganzen Land sind es über eine Million. Im Libanon sind eine Million syrischer Flüchtlinge beim UNHCR registriert, man geht von zusätzlich 300000 Syrern aus, die sich nicht registrieren haben – und das in einem Land, halb so groß wie Hessen und mit nur 4,5 Millionen Einwohnern. Das Flüchtlingscamp Satari in Jordanien ist mit seinen 1,3 Millionen Flüchtlingen inzwischen die viert größte Stadt im Land. Jordanien erlaubt heute nur noch Syrern die Einreise, wenn sie direkt aus Syrien kommen. Ägypten jedoch ignoriert seine Verantwortung und Verpflichtungen, ebenso wie die historische Verbundenheit mit Syrien – beide Länder hatten sich 1958 zu einem Staat vereint, der Vereinigten Arabischen Republik – und macht auf dem Rücken syrischer Flüchtlinge Politik gegen die in Ungnade gefallene Muslimbruderschaft. Doch nicht nur Syrer sind von der harten Linie der ägyptischen Regierung und dem ausufernden Rassismus im Land betroffen. Zusammen mit syrischen Flüchtlingen kamen auch tausende in Syrien lebende Palästinenser nach Ägypten.
Im Herbst gab die palästinensische Botschaft in Kairo die Zahl der in Ägypten angekommenen Palästinenser aus Syrien mit knapp 7000 an, andere Quellen sprechen von über 10000. Vor dem Aufstand in Syrien waren dort lebende Palästinenser integriert und hatten Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem. In Ägypten hingegen werden sie ebenso wie Syrer pauschal als Verbündete der Muslimbrüder betrachtet, vom Staat verfolgt und in der Gesellschaft ausgegrenzt. Zudem weigert sich die Interimsregierung in Kairo dem UNHCR ein Mandat für palästinensische Flüchtlinge zu übertragen. Palästinensische und syrische Flüchtlinge leben daher mit einem rechtlich prekären Status am Nil, haben keinerlei wirksamen Schutz vor staatlicher Willkür und meist noch weniger Möglichkeiten als Syrer Ägypten wieder zu verlassen. Palästinenser und Syrer sind auf zivile nicht staatliche Hilfe angewiesen. Der 2006 gegründete Tadamon Council ist eine der größten Hilfsorganisationen für Flüchtlinge in Ägypten, fungiert als Dachverband für rund 50 lokale Initiativen im Großraum Kairo und unterhält sechs Zentren, die als Anlaufstelle für Vernetzung und Selbsthilfe dienen. Neben Kinderbetreuung, Schulunterricht und medizinischer Grundversorgung helfen gut 4000 Freiwillige bei rechtlicher und psychologischer Beratung. Für Flüchtlinge am Nil sind Organisationen wie Tadamon unersetzbar, sorgen sie doch für ein Minimum an medizinischer Versorgung und Integration der auf sich allein gestellten Menschen. Dennoch ist ihre Arbeit nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Ägypten braucht einen Reform in der Migrationspolitik. Doch unter der neuen politischen Führung des Landes hat sich nichts verbessert, im Gegenteil. Der designierte neue Präsident Ägyptens, Abdel Fattah El Sisi, steht für die Erhaltung des Status Quo, auch in der verantwortungslosen Flüchtlingspolitik Ägyptens.
© Sofian Philip Naceur 2014