„Barakat“ – Arabisch „Es reicht“ – heißt Algeriens neue Protestbewegung, die am Stuhl von Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika sägt und zum Boykott der Wahl aufruft. Algeriens Bevölkerung ist mehrheitlich jünger als 35 und viele Menschen fühlen sich ob der verfehlten Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik der Regierung im Stich gelassen. Die größten sozialen Probleme sind die immense Jugendarbeitslosigkeit und die eklatante Wohnungsnot. Doch Algeriens Jugend macht sich Luft. Vorbei ist die Zeit des Frustes über die alternativlos und autokratisch regierende Nationale Befreiungsfront, auch wenn Sicherheitskräfte Proteste weiterhin mit Gewalt niederknüppeln. Mit Barakat haben viele Menschen in Afrikas größtem Flächenstaat, ernüchtert von Algeriens pseudo-demokratischer Fassade und maßlos enttäuscht von den etablierten Oppositionsparteien, einen Weg gefunden sich gegen die Regentschaft des allmächtigen Militär- und Geheimdienstapparates zu wehren. Die Bewegung könnte jedoch bei anhaltendem Zulauf einem größeren Aufstand den Weg bereiten (erschienen in Junge Welt vom 16.4.2014).
Während der Arabische Frühling 2011 die gesamte Region in Aufruhr versetzte, blieb es in Algerien damals weitgehend ruhig. Der größten Kundgebung in Algier mit rund 3000 Menschen begegnete das Regime mit einer Machtdemonstration, zog 30000 Sicherheitskräfte aus dem ganzen Land zusammen und verwandelte die Hauptstadt in eine Festung. Doch heute ist Algeriens junge Protestbewegung im Aufwind. Bouteflikas Kandidatur hat eine rote Linie überschritten und Menschen mobilisiert. Algier erlebte zwar auch in den letzten Jahren trotz des Versammlungsverbots immer wieder Demonstrationen, doch haben die derzeitigen Proteste in allen Landesteilen deutlich mehr Zulauf als 2011. Allein in der ersten Märzwoche wurden drei Protestzüge in Algiers Innenstadt gewaltsam aufgelöst. Zudem rumort es seit Wochen in der mehrheitlich von der Berber-Minderheit bewohnten Kabylei östlich von Algier. Die Provinzen Tizi Ouzu, Bejaia und Bouira waren zuletzt immer wieder Schauplatz lokaler Proteste gegen Bouteflikas Kandidatur. So stürmten am 5. April Bouteflika-Gegner eine Wahlkampfveranstaltung seines Wahlkampfleiters Abdelmalek Sellal in Bejaia, bevor dieser überhaupt am Versammlungsort erschien. Auch vor der Kampagne Ali Benflis‘ machten die Proteste in der Kabylei nicht halt und störten wenige Tage später die Rede eines Benflis-Gehilfen in Bouira.
Dabei finden im Wahlkampf Forderungen der Berber-Minderheit nach Anerkennung ihrer Sprache Amazigh durchaus Gehör. Sowohl Benflis als auch Louisa Hanoune, Vorsitzende der trotzkistischen Arbeiterpartei PT, haben sich die gesellschaftliche Anerkennung der Berber auf die Fahne geschrieben. Hanoune forderte die institutionalisierte Anerkennung Amazighs als zweite nationale Sprache, während Benflis in Tizi Ouzu der Opfer des Berber-Aufstandes von 1963 gedachte und die „Emanzipation“ der Berber ankündigte. Initiativen dieser Art sind jedoch eher wahltaktischer Natur, beide Kandidaten sind schließlich auf Stimmenfang und wollen den dort verankerten Parteien den Einfluss streitig machen. Nachdem die oppositionelle Sammlung für Kultur und Demokratie (RCD) schon vor Monaten bekanntgab den Urnengang zu boykottieren, kündigte auch die zweite große Berber-Partei, die Front der sozialistischen Kräfte (FFS) von Ahmed Betatache, jüngst an die Wahlen nicht anzuerkennen, da sie jeglichen demokratischen Prinzipien widersprechen würden. Die Kabylei wartet derweil gespannt auf den 20. April. Die für diesen Tag angekündigten Proteste anlässlich des Jahrestages des von der Staatsmacht blutig unterdrückten Berberfrühlings 1980 dürften ein Drahtseilakt für die Machthaber in Algier werden. Nur drei Tage nach den Wahlen sind Unruhen praktisch vorprogrammiert.
Seit Dezember 2013 erlebt die Stadt Ghardaïain der Provinz Mzab rund 600 Kilometer südlich von Algeriens Hauptstadt Algier heftige sektiererische Unruhen. Mindestens acht Menschen wurden seither getötet und mehrere Hunderte verletzt. Erst Anfang April entlud sich eine erneute Welle der Gewalt in der mehrheitlich von Mozabiten, einer zu den Berbern zählenden Volksgruppe, bewohnten Provinz. Sunnitische Araber des Chambaa-Stammes und Mozabiten gingen dabei immer wieder aufeinander los, zündeten Wohnhäuser und Geschäfte an und verwüsteten einen Friedhof. Wurden die blutigen Ereignisse noch im Dezember von der Regierung heruntergespielt und ignoriert, reisten im Februar Innenminister Tayeb Belaiz und Vertreter des Sicherheitsapparates nach Ghardaïa. Auch die Verlegung von 10000 Gendarmen in die Provinz, die auch als „Perle des Südens“ bekannt ist und zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt, konnte die Lage bisher nicht beruhigen.
Der Konflikt zwischen Sunniten und Mozabiten in Mzab ist ein bereits seit Algeriens Unabhängigkeit 1962 andauernder ethnischer Konflikt. Damals gewannen die Sunniten die Unterstützung der fortan regierenden Nationalen Heilsfront und attackierten die Mozabiten als reaktionäre Profiteure der alten Kolonialordnung. Konflikte zwischen Berbern und Arabern sind nicht neu in Algerien. Insbesondere unter Präsident Houari Boumediénne, der das Land von 1965 bis 1979 regierte, wurde Öl ins bereits lodernde Feuer gegossen, da unter seiner Regentschaft eine staatlich geförderte sunnitische Islamisierung des Landes voran getrieben wurde. Die Minderheit der Berber auch in anderen Landesteilen forcierten seither ihren Kampf für politische und kulturelle Freiheiten. In Mzab fanden sowohl 1985 als auch 2008 ähnliche Unruhen statt, doch die jüngste Gewaltwelle ist mit Abstand die heftigste ethnisch motivierte Gewalteruption in der zu 90 Prozent von Berbern bewohnten Region. Unklar bleibt nach wie vor welche Rolle die Staatsmacht beim Ausbruch der jüngsten Ausschreitungen gespielt hat.
© Sofian Philip Naceur 2014