Ägyptens Lohnabhängige bleiben sich treu. Politische Proteste und Arbeitskämpfe wechselten sich seit der Revolution 2011 stets ab und setzten die jeweiligen Machthaber am Nil dadurch konstant unter Druck. So auch heute rund drei Jahre nach Beginn der Revolte. Kaum hatten sich die Proteste von Muslimbrüdern und der säkularen militärkritischen Opposition im Januar 2014 anlässlich des dritten Jahrestages des Beginns des Aufstandes beruhigt, wurde Ägypten von einer umfassenden Streikwelle erfasst. Am 10. Februar 2014 begannen rund 20000 Angestellte der größten Textilfabrik Ägyptens, der staatseigenen Egypt Spinning and Weaving Company in Mahalla Al-Kubra im Nildelta, dem historischen Zentrum der Arbeiterproteste am Nil der vergangenen Jahre, den Arbeitsausstand. Ihre Forderungen: Begleichung ausstehender Provisionen und Gewinnbeteiligungen, Umsetzung des gesetzlichen Mindestlohnes für den öffentlichen Dienst in Höhe von 1200 ägyptischen Pfund (rund 120 Euro) und die Absetzung Fuad Abdel Aleems, dem Chef der staatlichen Textile Holding Company, der Dachgesellschaft für landesweit 32 staatseigene Textilfabriken. Die Auszahlung der Gewinnbeteiligung wurde der Arbeiterschaft wie so oft in Ägypten mit dem Argument verwehrt es gebe schlicht keine Gewinne, die an die Belegschaft ausgeschüttet werden könnten. Für die finanzielle Schieflage der staatlichen Textilindustrie machen die Streikenden in Mahalla explizit Abdel Aleem verantwortlich. Seit dessen Amtsantritt an der Spitze der Holding Company verbucht die staatliche Textilbranche herbe Verluste. Ihm wird Fahrlässigkeit, finanzielles Missmanagement und die Korruption in der Verwaltung zur Last gelegt (erschienen in Junge Welt am 4.3.2014).
Angestachelt vom Streik in Mahalla legte in 12 weiteren staatlichen Textilfabriken die Belegschaft die Arbeit nieder. Insgesamt rund 45000 Arbeiterinnen schlossen sich dem Arbeitskampf im Textilsektor an. Nach zwei Wochen Arbeitskampf ließen sich die Streikenden in Mahalla nach Verhandlungen mit der Regierung des zurückgetretenen Premierministers Hazem Al-Beblawis auf ein vorläufiges Ende des Ausstandes ein, jedoch unter Vorbehalt. Sollte die Regierung in den kommenden 60 Tagen nicht auf die Forderungen der Arbeiter eingegangen sein, droht der staatlichen Textilindustrie der nächste Ausstand. Währenddessen begannen in anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes zahlreiche Streiks. Postangestellte, Polizeibeamte in Gharbiya und Alexandria und Busfahrer des staatlichen Nahverkehrs in Kairo und Giza legten vorübergehend die Arbeit nieder. Eine der Hauptforderungen war auch hier die Einführung des Mindestlohnes. Die Regierung hatte die Einführung des erhöhten Mindestlohnes nur unzureichend umgesetzt und schlicht verschleppt.
Derweil wurde am Samstag das neue Kabinett von Ex-Wohnungsbauminister und Premierminister Ibrahim Mehleb vereidigt. Der dem staatssozialistischen Lager anhängige Arbeitsminister Kamal Abu Eita, eine von der Übergangsregierung geschickt kooptierte Gallionsfigur der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung, ist im neuen Kabinett nicht mehr vertreten und muss als Bauernopfer für die misslungene Wirtschaftspolitik der Regierung Al-Beblawi herhalten. Der Vorsitzende des unabhängigen Gewerkschaftsverbandes (EFITU) Bassema Haqala bezeichnete die Ernennung von Nahed Al-Ashri zur neuen Arbeitsministerin als „Bestrafung für die Arbeiterschaft“ und warf ihr vor in ihrer Funktion als Vermittlerin bei Arbeitskämpfen die Interessen der Arbeitnehmerseite ignoriert zu haben. Halaqa betonte die unabhängige Gewerkschaftsbewegung bleibe weiterhin kampfeslustig, sollte auch die neue Regierung die Forderungen der Arbeiterschaft missachten.
© Sofian Philip Naceur 2014