Ägypten kommt nicht zur Ruhe. Am Wochenende wurde der dritte Jahrestag der Revolution von einer Welle der Gewalt überschattet. Während Interimsregierung und Armeeführung unter Verteidigungsminister Abdel Fattah El Sisi die Menschen seit Tagen dazu aufgerufen hatten auf den symbolträchtigen Tahrir Platz in Kairo zu ziehen und den Beginn des Volksaufstandes gegen den gestürzten Präsidenten Hosni Mubarak am 25. Januar 2011 zu feiern, kam es im ganzen Land zu teils heftigen Ausschreitungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Nach amtlichen Angaben wurden landesweit 49 Menschen getötet und über 1000 verhaftet. Bereits am Freitag starben bei Zusammenstößen zwischen Anhängern der Muslimbruderschaft und Sicherheitskräften mindestens 15 Menschen, nachdem am Vormittag im Großraum Kairo vier Bomben explodierten. Ziel der Anschläge, zu denen sich die im Nord-Sinai operierende Islamistengruppe Ansar Beit al-Makdis bekannte, war unter anderem ein Polizeihauptquartier im Stadtzentrum der Hauptstadt Kairo (erschienen in Junge Welt am 27.1.2014).
Am Samstag versammelten sich zehntausende Anhänger El Sisi’s auf dem Tahrir, während Sicherheitskräfte in umliegenden Stadtvierteln hart gegen zahlreiche Demonstrationen vorgingen. Armee, Geheimdienst und Polizei hatten vor staatlichen Einrichtungen, Polizeiwachen und traditionellen Protestorten der Bruderschaft Stellung bezogen. Innenminister Mohamed Ibrahim hatte bereits vergangene Woche verkündet hart gegen jedwede Demonstration von Muslimbrüdern und linksliberaler Opposition vorgehen zu wollen. Neben den Muslimbrüdern hatten auch Gruppen aus dem linksliberalen anti-islamistischen und anti-militaristischen Lager zu Protesten gegen Regierung und Armeeführung aufgerufen. Bereits am Samstag Vormittag wurde ein von den Revolutionären Sozialisten (RS) angeführter Protestzug in Mohandeseen in Giza mit Tränengas auseinander getrieben. Die säkularen Gegner von Bruderschaft und Militär versammelten sich kurz darauf erneut vor dem Sitz der Journalistengewerkschaft im Stadtzentrum Kairos und zogen in Richtung Tahrir. Die Polizei ging mit Tränengas gegen die rund 1500 Demonstranten vor und trieb die Menge mit gepanzerten Fahrzeugen auseinander. Dutzende Mitglieder der RS und der Bewegung des 6. April wurden verhaftet.
Währenddessen setzten Sicherheitskräfte bei den Protestmärschen der Bruderschaf, die erst im Dezember von der Interimsregierung zur „terroristischen Vereinigung“ erklärt wurde, scharfe Munition ein. Proteste der Muslimbrüder in Nasr City und Ain Shams in Kairo sowie in Mohandeseen und Dokki in Giza wurden von der Polizei nach stundenlangen Straßenschlachten mit Gewalt aufgelöst. Derweil nutzen Interimsregierung und Militärregime die aufgeheizte Stimmung gegen die Muslimbrüder und weiten ihr repressives Vorgehen rigoros auf die linksliberale säkulare Opposition aus. Auch am Wochenende wurde zahlreiche Aktivisten aus dem militärkritischen und anti-islamistischen Lager in ihren Wohnungen verhaftet. Erst am 22. Januar hatte der im Spätsommer restaurierte Inlandsgeheimdienst Mabahith Amn Ad Dawla, Ägyptens Staatssicherheit, den ehemaligen Journalisten und Übersetzer und heutigen Englischlehrer Jeremy Hodge und den aus dem Sinai stammenden Dokumentarfilmer Hossam El Din Salman El Meneai vor ihrer gemeinsamen Wohnung in Dokki verhaftet. Beide werden an unbekanntem Ort ohne Anklage und Kontakt zu Anwälten festgehalten.
Die Stimmung am Nil bleibt angespannt. Nach der Absetzung Mursis durch die Armee und der Annahme der neuen Verfassung des Landes vor knapp zwei Wochen versuchen Interimsregierung und die Armeeführung die Revolution für sich zu vereinnahmen. Geschickt nutzten Übergangsregierung und Sicherheitsapparat die aufgeheizte Stimmung gegen die Muslimbruderschaft und forcierten eine nationalistische Kampagne gegen all jene, die sich der Deutungshoheit neoliberaler und armeenaher politischer Kräfte am Nil widersetzen. Während die säkulare armeekritische Opposition mit Gewalt mundtot gemacht wird und Journalisten und Ausländer vermehrt von Passanten mit dem Vorwurf attackiert werden die Muslimbrüder zu unterstützen, werden die Rufe nach einer Kandidatur El Sisi’s bei der anstehenden Präsidentschaftswahl lauter. Ägyptische Medien gehen davon aus, dass El Sisi in den kommenden Tagen seine Kandidatur bekannt geben wird.
© Sofian Philip Naceur 2014