Erstmals seit der Absetzung des islamistischen Präsidenten Mohamed Mursi durch die Armee im Juli versammelten sich am Montag und Dienstag wieder revolutionäre Jugendgruppen auf dem Tahrir Platz im Stadtzentrum der ägyptischen Hauptstadt Kairo, gedachten der Opfer des Massakers in der Mohamed Mahmoud Straße im November 2011 und protestierten gegen die Übergangsregierung, die Armee und die Muslimbruderschaft. Seit dem Sturz Mursis hatte sich das Land am Nil zunehmend polarisiert, Proteste säkularer anti-militaristischer Gruppen gegen die Herrschaft des Militärs wurden marginalisiert, als „verräterisch“ denunziert oder schlicht mit den Muslimbrüdern gleichgesetzt. Das Land sah zuletzt fast ausschließlich Demonstrationen der Muslimbrüder oder der Anhänger des neuen starken Mannes am Nil, Armeechef und Verteidigungsminister General Abdelfattah El-Sisi. Das Militär schwimmt derzeit auf einer Welle der Popularität und gebärdet sich als Verteidiger der ägyptischen Revolution und Bollwerk gegen den Islamismus (erschienen in Junge Welt vom 21.11.2013).
Das Mohamed Mahmoud Massaker im November 2011 war der damalige Höhepunkt der Proteste gegen die Herrschaft des Obersten Militärrates (SCAF) unter Feldmarschall Hussein Tantawi, der das Land seit dem Sturz des im Februar 2011 gestürzten Staatspräsidenten Ägyptens Hosni Mubarak und bis zum Amtsantritt Mohamed Mursis im Juni 2012 autoritär regierte. Am 19. November 2011 versuchten Einheiten von Polizei und Armee einen Sit-In auf dem Tahrir gewaltsam zu zerstreuen. Die Attacke der Sicherheitskräfte auf die unbewaffneten Demonstranten mündete in einer fast einwöchigen Straßenschlacht, bei der mindestens 47 Menschen getötet und Tausende verletzte wurden. Die Sicherheitskräfte gingen damals mit aller Härte gegen die Proteste vor und setzten Tränengas, Gummigeschosse und scharfe Munition ein. Das Mohamed Mahmoud Massaker wurde schnell zum Symbol der Proteste gegen den SCAF und die Brutalität von Ägyptens Sicherheitsapparat. Auch die Mahnwache zum Gedenken an die Opfer am ersten Jahrestag des Beginns des Massakers im November 2012 endete in Gewalt und einer tagelangen Straßenschlacht zwischen Demonstranten und der Polizei.
Die trotzkistischen Revolutionären Sozialisten (RS), die liberale Bewegung des 6. April, Gewerkschaftlerinnen und andere Gruppierungen versammelten sich bereits am Montagabend am Abdeen Palast, einer präsidialen Residenz in der Kairoer Innenstadt, um Zusammenstöße mit rivalisierenden politischen Demonstrationen am Dienstag, dem zweiten Jahrestag des Mohamed Mahmoud Massakers, zu vermeiden. Auch die islamistische Muslimbruderschaft und Unterstützer von Armeechef El-Sisi hatten angekündigt zum Tahrir zu ziehen und für ihre politischen Ziele zu demonstrieren. Vom Abdeen zogen am frühen Abend rund 2000 Menschen zum Tahrir Platz, der noch bis zum Nachmittag von der Armee hermetisch abgeriegelt war, und demontierten ein erst am Vormittag von Premierminister Hazem El-Beblawi eingeweihtes Denkmal zu Ehren der während der Revolution getöteten Märtyrer. Der Bau des Denkmals, von der Interimsregierung in Auftrag gegeben, wurde von Vielen mit Kopfschütteln und teils harscher Kritik goutiert, schließlich werden Polizei und Armee für die Toten von 2011 und 2012 in der Mohamed Mahmoud Straße verantwortlich gemacht. „Wir werden nicht zulassen, dass sie (Sicherheitsapparat und Muslimbrüder, Anmk.) einen Eigentumsanspruch an der Revolution anmelden“, heißt es in einem Statement der Front des revolutionären Weges, einer Koalition linker und liberaler Gruppen und Parteien.
Die Armee hatte sich vom Tahrir zurückgezogen und damit erstmals wieder Proteste der antimilitaristischen Opposition auf dem symbolträchtigen Tahrir ermöglicht. Am Dienstag kam es bereits am Mittag zu Zusammenstößen zwischen Anhängern von Militär und Übergangsregierung sowie ihren Opponenten. Die Demonstration am Abend mit rund 5000 Teilnehmern verlief zunächst friedlich, bis es in der Nacht doch zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten kam. Nach offiziellen Angaben wurde ein Demonstrant getötet und rund 50 verletzt.
© Sofian Philip Naceur 2013