„Die Armee hat gezeigt, dass sie dem Ruf des ägyptischen Volkes folgt. Die Armee ist die Stimme des Volkes“ sagt ein Demonstrant am 30. Juni bei den Massenprotesten für die Absetzung Mohamed Mursis in Kairo. Generalstabschef und Verteidigungsminister Abdelfattah El-Sisi versucht seither eine Symbiose zwischen Volk und Armee herbeizureden. Das Militär habe vom Volk das Mandat erhalten Mursi abzusetzen. Die Armee werde den „Willen des Volkes“ beschützen und gegen „die Terroristen“ vorgehen, sagte El-Sisi am Sonntag. Mit „Terroristen“ sind die Muslimbrüder gemeint, die in Ägypten seit Wochen pauschal mit Terroristen gleichgesetzt werden. Nach der gewaltsamen Räumung ihrer Protestcamps diskutiert die Regierung nun offen über ein Verbot der Organisation.Die Widerherstellung der alten Ordnung und Restauration des alten Regimes läuft auf Hochtouren. Die Zerschlagung des alten Parteiapparates der Nationaldemokratischen Partei (NDP) Hosni Mubaraks hat die Armee und mächtige Kader des 2011 gestürzten Regimes nicht an der Rückeroberung der politischen Sphäre Ägyptens gehindert. Heute aber muss sich das alte Regime nicht verstecken. Geschicktes Taktieren während Mursis Amtszeit hat es Mubaraks Schergen erlaubt die Opposition auf Linie zu trimmen. Das Übergangskabinett wird derweil von Ex-NDPlern und alten Bekannten kontrolliert (erschienen in Die Wochenzeitung vom 22.8.2013).
„Revolution ist ein Prozess, eine Konterrevolution auch“ schreibt der Journalist Adam Shatz. Das Mittel zur erfolgreichen Restauration des altbekannten Polizeistaates am Nil nach dem Ausschalten der Muslimbrüder ist der Nationalismus. Das Land wird derzeit von einer nationalistischen Welle überrollt. „Das ägyptische Volk“, der „Wille des Volkes“ oder „Kampf gegen den Terrorismus“ sind die am häufigsten gebrauchten Floskeln von Übergangsregierung, Generälen und dem Großteil der säkularen, liberalen und nasseristischen Opposition, die sich im Zuge der gewaltsamen Räumung der Camps der Muslimbrüder fast geschlossen hinter Regierung und Armeeführung gescharrt haben und versuchen die politische Lage in Ägypten auf den Kampf zwischen zwei Lagern zu reduzieren, zwischen guten Liberalen und Terroristen.
Die Nationale Heilsfront (NSF), ein Bündnis liberaler und nasseristischer Parteien und die stärkste Kraft in der säkularen Opposition, stellte sich ohne Wimpernzucken hinter El-Sisi und den von ihm eingesetzten Übergangspräsidenten Adly Mansour. Auch die NSF, die stark im Übergangskabinett vertreten ist, setzt auf Nationalismus und Dämonisierung der Muslimbrüder. Sie beschuldigt die Bruderschaft den Staat „stürzen“ zu wollen und lobt die Armee für ihre „historische Rolle“ im Kampf gegen „organisierten Terrorismus“. Mohamed El-Baradei, Vorsitzender der Verfassungspartei, die Teil der NSF ist, hatte aus dem brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte bei Räumung der Camps der Muslimbrüder die Konsequenzen gezogen und war von seinem Amt als Vizepräsident zurückgetreten. Von der NSF und seiner eigenen Partei hagelte es Kritik, er habe sich aus der Verantwortung gestohlen, heißt es. El-Baradei war ein Bauernopfer, um die Bruderschaft kaltstellen zu können. Seine Kompromissbereitschaft stand dem offenbar im Weg.
Auch Hamdeen Sabahi, Vorsitzender der nasseristischen Karama-Partei, der stärksten staatssozialistischen Fraktion in der NSF, unterstützt den Kurs der Regierung. Die machthungrigen Nasseristen, eine immer noch einflussreiche politische Strömung in Ägypten, haben sich schnell von den Militärs einwickeln lassen – ob aus ideologischer Nähe zu El-Sisi oder Machtkalkül sei dahingestellt. El-Sisi hat die Nasseristen bei Bildung der Übergangsregierung mit einbezogen. Mehrere Minister kommen aus dem nasseristischen Lager und verschaffen diesem damit wieder politischen Einfluss.
Die Nasseristen sind das politische Erbe Gamal Abdel Nassers, Ägyptens Präsident von 1954 bis 1970. Nasser hatte 1952 mit den Freien Offizieren geputscht und die Monarchie gestürzt. Sein Staatssozialismus basierte auf Verstaatlichung der Industrie, Bekämpfung der Armut, nationalistischer Rhetorik und der Überzeugung nur ein starker Staat unter Kontrolle der Armee könne Ägyptens Unabhängigkeit garantieren. Kommunisten und Muslimbrüder ließ er verfolgen.
Die säkulare regimenahe Opposition sieht sich zwar durch die Massenproteste gegen Mursi gestärkt, profitiert politisch jedoch vor allem durch ihre Nähe zur Armee, Rückhalt in der Bevölkerung hat sie nur in den urbanen Zentren. Während liberale Parteien wie die Sozialdemokraten oder die Verfassungspartei in der Mittel- und Oberschicht ihre Anhänger haben, kann die Karama-Partei in Kairo und Alexandria auf Rückhalt in den ärmeren Bevölkerungsschichten zählen. Auf dem Land hingegen, vor allem in Oberägypten, hat die Bruderschaft ihre Basis. Auch wenn deren politische Führung der Mittelschicht entspringt, kommt der wesentliche Anteil ihrer Anhängerschaft aus den benachteiligten Landesteilen.
Dennoch wiedersetzen sich einige politische Gruppen der Polarisierung von Ägyptens Gesellschaft. Nach der Absetzung Mursis riefen die gewerkschaftsnahen Revolutionären Sozialisten (RS) und die liberale Bewegung des 6. April zu einer Demonstration des „dritten Platzes“ auf, um sich der aufgeheizten Dynamik zwischen Anhängern und Gegnern der Muslimbrüder zu entziehen. Nein zur Widereinsetzung der Regierung Mursi, nein zur Militärherrschaft. Schon 2011 hatte der RS-Wortführer Hossam El-Hamalawy vor einer Rückkehr der Schergen Mubaraks gewarnt. Verfrühte Wahlen würden Parlament und Staatspräsident zu Marionetten des immer noch mächtigen Militär- und Polizeiapparates machen. Er sollte Recht behalten. In einem Statement der Gruppe bezeichnen die RS die Auflösung der Protestlager der Muslimbrüder als „blutige Generalprobe für die Liquidierung der Revolution“ und die Angriffe von Muslimbrüdern und Salafisten auf Christen als „ein sektiererisches Verbrechen, dass nur den Kräften der Konterrevolution“ diene. Die RS stehen weiter zu den Zielen der Revolution 2011: Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit. Ihre Proteste waren dennoch nur mäßig besucht. Sie rufen derzeit nicht zu Protesten auf, es sei schlicht zu gefährlich heißt es aus dem Umfeld der RS. Und sie wissen, dass die Zeit der Streiks wieder kommen wird. Immer wenn seit 2011 politische Proteste abflauten, intensivierten sich die Arbeitskämpfe unabhängiger Gewerkschaften und setzten das Regime weiter unter Druck.
„Es gibt keinen dritten Platz, es gibt das ägyptische Volk und die Terroristen, nichts dazwischen“ sagt Mohamed Nabwy, Sprecher von Tamarud (Rebellion), der Unterschriftenkampagne für Mursis Absetzung, die die Massenproteste gegen die Muslimbrüder erst ausgelöst hatte. Er wirft dem „dritten Platz“ vor „das ägyptische Volk zu teilen“ und bedient damit exakt die nationalistische Einheitsrhetorik, die die Armee derzeit gerne hört. Tamarud lässt sich derweil vor den Karren der Armee spannen. Mohamed Badr, Mitbegründer der Initiative, hatte am Freitag dazu aufgerufen gegen den „Terror“ der Bruderschaft zu demonstrieren und damit allzu offen gezeigt wie nahe er den Generälen steht. Die neue Unterschriftenkampagne von Tamarud, die ausländische Finanzhilfen und den Einfluss der USA auf Ägypten ins Visier nimmt und den Friedensvertrag mit Israel neu aushandeln will, lässt zudem erneut Zweifel an der Unabhängigkeit der Organisation aufkommen. Wird Tamarud zum neuen Sprachrohr des Regimes aufgebaut?
© Sofian Philip Naceur 2013