Nach der Entmachtung der Muslimbruderschaft in Ägypten mobilisiert diese weiterhin ihre Anhänger und protestiert fast täglich in Kairo und anderen Landesteilen für die Widereinsetzung des abgesetzten Präsidenten Mohamed Mursi. Die Armee hatte vor drei Wochen auf die Massenproteste der Opposition reagiert, Mursi und die vom politischen Arm der Bruderschaft, der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), dominierte Regierung ab und die Verfassung außer Kraft gesetzt. Das Militär stellte sich auf die Seite der säkularen politischen Kräfte und drängt die Muslimbrüder seither in die Enge. Auf die politische Entmachtung durch die Armee folgte eine Verhaftungswelle von Führungskadern der Islamisten. Sicherheitskräfte gehen weiter gegen Proteste der Mursi-Anhänger vor. Ägyptens Staatsanwaltschaft lässt Anklagen gegen Kader von FJP und Bruderschaft prüfen. Ihnen wird vorgeworfen zu Gewalt aufgerufen zu haben und für die Ausschreitungen der letzten Wochen, bei denen landesweit rund 100 Menschen starben, verantwortlich zu sein (erschienen in Junge Welt vom 22.7.2013).
Das von FJP und Salafisten dominierte Oberhaus des ägyptischen Parlamentes, der Shura-Rat, der gleichzeitig mit der Absetzung Mursis vor rund zwei Wochen von der Armeeführung aufgelöst wurde, tagt währenddessen unbeirrt weiter. Ikhwanweb, die Website der Muslimbrüder, veröffentlicht Bilder des tagenden Rates oder seiner Ausschüsse und spricht weiterhin konsequent von „Präsident Mursi“. Die Medienpolitik von Bruderschaft und FJP erfüllt dennoch ihren Zweck und nutzt bei der Mobilisierung ihrer Anhängerschaft. Die Muslimbrüder müssen zeigen, dass sie über Rückhalt in der Bevölkerung verfügen und weiterhin eine einflussreiche politische Kraft sind. Schwierig ist dies derzeit zudem, da Ägyptens Staatsmedien die Pro-Mursi-Proteste zuletzt nur dann aufgriffen, wenn sie in Gewalt mündeten. Auch der unabhängigen und privaten Presse wird seitens der Bruderschaft vorgeworfen die Pro-Mursi-Proteste zu ignorieren.
Ägyptens Übergangspräsident Adli Mansour streckte der FJP die Hand aus und rief die Islamisten auf sich am politischen Übergangsprozess zu beteiligen. In einer Rede am Wochenende betonte der Chef der Interimsregierung Hazem Beblawi den „nationalen Dialog“ aller politischen Kräfte und Parteien in Ägypten fördern zu wollen. Die Bruderschaft verweigert dennoch die Kooperation mit der neuen Regierung, bezeichnen sie als „illegitim“ und fordern Mursis Widereinsetzung. Muslimbrüder und FJP rufen derweil weiter zu Protesten auf. Am Freitag folgten Tausende ihrem Aufruf in Kairo und anderen Städten gegen den „Putsch“ zu demonstrieren. In Mansura im Nil-Delta starben bei Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern Mursis zwei Menschen, Ikhwanweb spricht von vier Toten und bezichtigt die Sicherheitskräfte und Mursis Gegner scharfe Munition eingesetzt zu haben. Am selben Tag fanden im Großraum Kairo unzählige kleinere Proteste statt. In Nasr City zogen Pro-Mursi Demonstranten in Richtung Verteidigungsministerium und Hauptsitz der Republikanischen Garden. Die Armee stoppte den Marsch und setzte am nahe gelegenen Präsidentenpalast Tränengas gegen Mursi-Anhänger ein. Die Bruderschaft ist bemüht die Friedfertigkeit ihrer Demonstrationen zu beweisen. Bei ihren ersten Protesten nach Mursis Absetzung zogen diese noch randalierend und bewaffnet durch die Straßen.
Die Armee gebärdet sich weiterhin als Stabilisator und zeigt Präsenz. In Kairos Stadtzentrum sind Dutzende Panzer stationiert. Militärhelikopter kreisen pausenlos über der Stadt und die Luftwaffe patrouillierte am Wochenende erneut mit Kampfflugzeugen über die Hauptstadt. Die Entmachtung Mursis hat der Armee Zustimmung in der Bevölkerung eingebracht, sie solidarisiert sich mit den Mursis-Gegnern und präsentiert sich als Retter in der Not. Die Muslimbrüder warnen indes vor einer „Rückkehr der Korruption“ und der Restauration der Herrschaft der Nationaldemokratischen Partei (NDP) des 2011 gestürzten Hosni Mubarak. In der jüngst installierten Übergangsregierung Beblawis finden sich in der Tat zahlreiche ehemalige Funktionäre der aufgelösten NDP und gar ehemalige Minister des Mubarak-Regimes.
© Sofian Philip Naceur 2013