Ägyptens Revolution begann am 25. Januar 2011 mit Massenprotesten in Kairo, Suez und anderen Städten. 18 Tage später trat Geheimdienstchef Omar Suleiman vor die Kameras und verkündete den Rücktritt des verhassten Despoten Hosni Mubarak. Der Staatspräsident war gestürzt. Vergangenen Sonntag zogen erneut Millionen Menschen auf die Straßen Ägyptens und forderten vehement den Rücktritt des seit genau einem Jahr amtierenden Präsidenten Mohamed Mursi. Nur vier Tage später entscheidet das hinter den Kulissen regierende mächtige Militär dem Ruf der Straße zu folgen, Mursi abzusetzen, die von den Islamisten im Herbst durchgepeitschte Verfassung außer Kraft zu setzen und einen Übergangspräsidenten zu ernennen. „Das ist der 19. Tag der Revolution und kein Staatsstreich, wie die westliche Presse behauptet. Amtlich hat die Armee Mursi abgesetzt, doch hat sie Ägyptens Bevölkerung mit ihrer Machtdemonstration vom Sonntag dazu gezwungen“, sagt ein junger Mann am Tahrir-Platz in Kairo, einem der Schauplätze des neuerlichen Aufstandes gegen die Staatsführung (erschienen in Junge Welt vom 5.7.2013).
Nachdem die Militärführung am Montag Regierung und Opposition ein 48 stündiges Ultimatum zur Lösung der Krise gestellt hatte, verfolgte das ganze Land mit Spannung die Fernsehansprache Mursis am Dienstagabend. Er lobte wieder und wieder die neue Verfassung und betonte gebetsmühlenartig, dass er der demokratisch gewählte und legitime Präsident des Landes sei. Er wirkt angespannt und nervös. Trotz seiner Appelle an die Armee das Ultimatum zurückzuziehen kündigte das Militär für Mittwochabend eine Ansprache an. Mursi ist angezählt. Schon am Morgen zogen Hunderttausende durch die Straßen und versammelten sich überall zu Kundgebungen. Ägyptens Nationalflagge, ein Symbol der Revolution von 2011, ist allgegenwärtig. Vor dem Verteidigungsministerium in Koubry Al-Qubba halten tausende Menschen Bilder von Ägyptens Verteidigungsminister Abdel Fattah Al-Sisi in die Höhe. „Vorwärts Al-Sisi“ und „Mein Geliebter Al-Sisi“ wird lautstark skandiert. Die Hoffnungen unzähliger Menschen ruhen auf der Armee, sie hat die Macht den verhassten Präsidenten in die Wüste zu schicken. Vergessen scheint die autokratische Herrschaft des Obersten Militärrates, der nach dem Sturz Mubaraks interimsmäßig das Land regierte, bis Mursi sein Amt als Präsident antrat.
Die Armee verhält sich geschickt. Trotz der Ankündigung die Sicherheitsvorkehrungen vor staatlichen Gebäuden zu verstärken und expliziter Warnungen an die Demonstranten sich an bestimmten Orten zu versammeln, hielten sich Armee und Polizei im Hintergrund. Militärhelikopter kreisen pausenlos über Ägyptens Hauptstadt und werden am Tahrir und am Präsidentenpalast in Heliopolis, einem Stadtteil im Osten Kairos und dem Hotspot der Massenproteste, immer wieder mit frenetischem Jubel begrüßt. Vor dem Hauptsitz der Republikanischen Garden, einer Sonderdivision der Armee, die für die militärische Verteidigung der Hauptstadt zuständig ist, tanzen die Menschen. Applaus brandet auf, als ein Soldat am Eingangsportal die ägyptische Fahne in das Kanonenrohr eines dahinter geparkten Panzers steckt. Soldaten verteilen Wasserflaschen an die Demonstranten. Nervös scheinen die Streitkräfte nicht zu sein. Von einem Balkon eines nahe gelegenen Wohnhauses kann man das gesamte Areal überblicken, einige Soldaten sitzen gelangweilt auf einer Mauer hinter dem Zugangstor, Bewaffnete sind nicht zu sehen.
Am frühen Abend sind alle Zufahrtstraßen in Richtung Präsidentenpalast verstopf. Hunderttausende Menschen strömen zum Amtssitz Präsidenten und warten auf offizielle Informationen der Armee. Die Stimmung ist ausgelassen. Plötzlich wird es still auf den Straßen, Menschentrauben bilden sich um Geschäfte und Restaurant, in denen der Fernseher läuft und Autos, in denen die Radios laut gestellt werden. Verteidigungsminister Al-Sisi verkündet die Aussetzung der Verfassung und die Einsetzung von Adly Mansour, dem Vorsitzenden des Obersten Verfassungsgerichtes, zum Interimspräsidenten.
Nicht enden wollender Jubel brandet auf. Es gibt kein Halten mehr, der Druck der Straße hat einmal mehr die Geschichte des Landes zu schreiben vermocht. Was danach kommt, ist zunächst unwichtig. Hupkonzerte und laute Musik ertönen aus allen Richtungen, die Stadt versinkt in einer riesigen Party, die die ganze Nacht nicht enden wird. „Mursi, wir bringen dich wieder in den Knast“, singt eine Arm in Arm tanzende Gruppe von jungen Männern. Anwar Hanfy, ein Ingenieur aus dem Norden Kairos und scharfer Kritiker des geschassten Präsidenten, blickt sorgenvoll auf sein Telefon. Er hat Freunde, die die Muslimbrüder unterstützen. „Ich habe Angst vor dem Blutbad heute Nacht, die Muslimbrüder werden Sturm laufen, es wird Zusammenstöße geben, entweder zwischen Anhängern und Gegnern Mursis oder die Sicherheitskräfte werden Proteste von Mursis Gefolgschaft niederschlagen.“ Seit einigen Tagen harren tausende Anhänger des Präsidenten im nahe gelegenen Nasr City aus. Gerüchte machen die Runde, es seien scharfe Waffen auf dieser Demonstration gesichtet worden. Die Armee sperrt nachts mehrere Stadtviertel auf der westlichen Nilseite komplett ab. Am Vortag waren hier bei Ausschreitungen zwischen Sicherheitskräften und Anhängern Mursis 16 Menschen gestorben.
© Sofian Philip Naceur 2013