Repressalien trotz Corona in Algerien

Algerien droht von der Coronakrise hart getroffen zu werden. Wie viele andere Länder auch setzt Algeriens Regierung daher inzwischen auf erhebliche Beschränkungen im öffentlichen Leben. Industrie, Bildungssektor, Gastronomie und öffentlicher Nah- und Fernverkehr stehen praktisch still. Eine Ausgangssperre und ein landesweites Versammlungsverbot sollen eine weitere Verbreitung des Virus verhindern. Doch Staatsmacht und Justiz instrumentalisieren den praktischen Ausnahmezustand im Land zunehmend für politische Zwecke und verschärfen im Windschatten der Pandemie ihr Vorgehen gegen Opposition, Protestbewegung und die freie Presse. Vor allem letztere ist zuletzt zur Zielscheibe der Behörden geworden (erschienen in junge Welt am 1.4.2020).

Vergangene Woche hatte ein Gericht in Algier einen Haftbefehl gegen den Journalisten und Mitbegründer der Internetzeitung Casbah Tribune, Khaled Drareni, erlassen. Der Korrespondent des französischen TV-Kanals TV5 Monde und von »Reporter ohne Grenzen« (RSF) hatte sich am Freitag den Behörden gestellt und sitzt inzwischen im berüchtigten El-Harrach-Gefängnis in Algier. Vorgeworfen werden ihm »Anstiftung zu einer unbewaffneten Versammlung« und »Angriff auf die nationale Einheit«. Drareni ist einer der prominentesten Reporter des Landes und gilt als wichtige Stimme der im Land »Hirak« genannten Protestbewegung, die seit Februar 2019 gegen das Regime auf die Straße zieht – unterbrochen nur von der jüngsten »Coronakrise«.

Verhaftet worden war Drareni im Zuge der Freitagsproteste schon unzählige Male, konnte die jeweilige Polizeiwache jedoch immer nach wenigen Stunden wieder verlassen, ohne von der Justiz belangt worden zu sein. Bis Anfang März, als er mehrere Tage in Gewahrsam verbrachte, bis ein Gericht eine richterliche Überprüfung gegen ihn anordnete. Selbige Kammer erließ nun in der vergangenen Woche den Haftbefehl gegen den jungen Journalisten.

RSF, die »Algerische Menschenrechtsliga« (LADDH) und ein von rund 200 algerischen Reportern unterzeichneter Appell fordern die sofortige Freilassung Drarenis und das Fallenlassen sämtlicher Anklagepunkte. Er ist dabei nicht der einzige Journalist, der wegen seiner Berichterstattung über die Protestbewegung inhaftiert ist. Mindestens drei weitere Pressevertreter sitzen derzeit hinter Schloss und Riegel.

Drarenis Verhaftung ist derweil nicht der einzige Vorstoß von Regime und Justiz gegen der Protestbewegung nahestehende Personen. Vor einer Woche hatte ein Gericht in Algier den Chef der Linkspartei »Demokratisch-Soziale Union« (UDS), Karim Tabbou, zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Der Prozess hatte auch international für Entrüstung gesorgt, weil die Anhörung nicht angekündigt worden war und in Abwesenheit von Tabbous Anwälten begann. Auch die Menschenrechtsorganisation »Amnesty International« und Abgeordnete des EU-Parlaments kritisierten das Urteil.

Seit die Protestbewegung Mitte März ihre allwöchentlichen Demonstrationen eingestellt hatte, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen, intensiviert nicht nur die Justiz ihr Vorgehen gegen den Hirak, sondern auch die Juristische Polizei (PJ) – eine der einflussreichsten Innenbehörden im Land. Diese weitet seither ihre Ermittlungen gegen die Bewegung stark aus. Es regne Vorladungen auf Hirak-Aktivisten, titelt das Internetmedium Maghreb Émergent vergangene Woche. Nach Informationen des Blattes hatten zuletzt Dutzende Aktivisten Vorladungen der PJ erhalten und seien zu ihren politischen Aktivitäten und Parteimitgliedschaften ausgefragt worden. Die Behörden nutzen die Protestpause offenbar dafür, sich auf das zu erwartende Wiederaufflammen der Protest vorzubereiten.

© Sofian Philip Naceur 2020

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