EU-Abschottung – Abschiebungen trotz Corona

Die EU und ihre Mitgliedstaaten instrumentalisieren die Coronakrise für eine erhebliche Verschärfung von Grenzabschottungsmaßnahmen im südlichen Mittelmeerraum. Legitimiert durch Kapazitätsengpässe im Gesundheitswesen im Kontext der Covid-19-Pandemie hatten Italien und Malta Anfang April ihre Häfen als »unsicher« deklariert und weigern sich seither, auf See gerettete Geflüchtete an Land gehen zu lassen. Maltesische Behörden hatten dabei letzte Woche für einen regelrechten Skandal gesorgt und unter eklatanter Verletzung internationalen Rechts am 15. April die »Rückführung« eines in Maltas Such- und Rettungszone in Seenot geratenen Schlauchbootes nach Libyen koordiniert. Das mit 63 Menschen besetzte Boot war dabei trotz Maltas Verantwortung, die Rettung zu übernehmen, in die umkämpfte libysche Hauptstadt Tripolis gebracht worden (erschienen in junge Welt am 21.4.2020).

Die Notrufhotline »Alarmphone«, die mit den Insassen in Kontakt war und Malta eindringlich zu deren Rettung aufgefordert hatte, kritisierte die Aktion scharf. Maltesische Behörden werden seither für den Tod von zwölf Menschen verantwortlich gemacht, die bei der tagelangen Odyssee auf See verdurstet oder ertrunken sind. Das EU-Land hat damit einen für Flüchtende folgenreichen Präzedenzfall geschaffen, der in Kürze auch die Justiz beschäftigen dürfte. Die maltesische Menschenrechtsorganisation »Repubblika« reichte eine Protestnote bei einem lokalen Gericht ein und kündigte an, Maltas Regierung verklagen zu wollen.

Die Internationale Organisation für Migration (IOM) warnte derweil am Freitag vor den Folgen von »Rückführungen« nach Libyen. Mindestens 3.200 Flüchtende seien seit Jahresbeginn von der sogenannten libyschen Küstenwache, die auch von der EU finanziert und ausgerüstet wird, in das Kriegsland zurückgebracht worden – rund 400 Menschen waren es allein in den letzten zehn Tagen, so die IOM. Mindestens 200 davon gelten als vermisst und dürften in von libyschen Milizen kontrollierten, informellen Haftanstalten interniert sein.

Diese jüngsten migrationspolitischen Entwicklungen im Mittelmeerraum könnten dabei ein Vorgeschmack auf die Neuausrichtung des EU-Grenzregimes in der Region sein. Denn die EU setzt offenbar darauf, die Coronapandemie zu nutzen, um ihre Grenzen quasi noch weiter nach Süden zu verlagern und zu »befestigen«. Angesichts der Präsenz von Seenotrettern im Mittelmeer und von UN-Behörden in Libyen werden entsprechende Entwicklungen bisher zumindest öffentlich bekannt. Eine weitere Verschiebung des Grenzregimes nach Süden dürfte aber dazu führen, dass vor allem gewaltsames Zurücktransportieren von Flüchtlingen unentdeckt bleibt.

Schon seit Jahren schieben nordafrikanische Staaten Geflüchtete immer wieder unter Missachtung internationalen Rechts in weiter südlich gelegene Staaten im Sahara- und Sahelraum ab. Berichte darüber sind jedoch rar gesät. Es ist sehr schwierig, Informationen zu verifizieren. Dabei hielten Libyen und Algerien trotz Coronakrise auch zuletzt an ihrer Abschiebepolitik fest – zumindest partiell. Nachdem bereits Ende März rund 100 Menschen aus Ostlibyen nach Sudan abgeschoben worden waren, führten ostlibysche Behörden in der ersten Aprilhälfte mindestens 236 Geflüchtete nach Sudan, Mali, Somalia, Nigeria und Ghana zurück. Auch Algerien setzte seine kritisierte Abschiebepraxis zuletzt fort – jedoch offenbar in geringerem Umfang als zuvor. Am 19. März waren mindestens 667 Menschen aus 15 Ländern an der Grenze zum südlichen Nachbarland Niger mitten in der Wüste ausgesetzt worden, berichtete die speziell für diese Region zuständige Notrufhotline »Alarmphone Sahara«. Seither konnten zwar keine weiteren Massenabschiebungen seitens algerischer Behörden nach Niger bestätigt werden. Eine Wiederaufnahme dieser Politik scheint aber nur eine Frage der Zeit. 2019 soll Algerien laut IOM mehr als 11.000 Menschen nach Niger abgeschoben haben.

© Sofian Philip Naceur 2020

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