Unterdrückte Protestwelle in Ägypten

Hunderte Verhaftungen, zwei Tote und ein nervöser Polizeiapparat, der seit mehr als zwei Wochen alles daransetzt, jedwede öffentliche Unmutsäußerung der Bevölkerung im Keim zu ersticken: Das ist die vorläufige Bilanz der derzeitigen Protestwelle in Ägypten. Einsatzkräfte seien mit Tränengas, Schlagstöcken, Gummigeschossen und in mindestens einem Fall mit scharfer Munition gegen die Proteste vorgegangen, hieß es in einer am Freitag veröffentlichten Erklärung von Amnesty International (erschienen in junge Welt am 5.10.2020).

Seit dem 20. September war es in Dörfern, Kleinstädten und Außenbezirken Kairos und Alexandrias zu regierungskritischen Demonstrationen gekommen, die am 26. September ihren Höhepunkt erreichten. In einem Dorf südlich der Hauptstadt gingen Einsatzkräfte gegen die Protestierenden vor, ein Mann wurde dabei von Polizeikugeln tödlich getroffen, wie medizinische Quellen gegenüber AFP bestätigten. Auch in dem Ort Awamiya in der Nähe von Luxor waren seit Beginn der Proteste vor allem junge Menschen auf die Straßen gegangen. Die Polizei reagierte mit täglichen Razzien, bei denen am vergangenen Mittwoch ein 38jähriger Mann vor seinem Haus ebenfalls durch Polizeischüsse getötet wurde. Bei der am Abend stattfindenden Beerdigung gingen die Beamten dann mit Tränengas gegen die Trauernden vor und trieben die Menge auseinander. Seither gilt eine Ausgangssperre für die Menschen im Dorf, wie die unabhängige ägyptische Internetzeitung Mada Masr am Sonnabend berichtete.

Wie groß die Protestwelle, die sich auf den Großraum Kairo als auch auf Provinzen im Nildelta und in Oberägypten erstreckte, tatsächlich war, ist bis heute unklar, fanden die Demonstrationen doch ausschließlich in ländlichen Gebieten und in den Großstädten abseits zentraler Plätze statt. Da auch zahlreiche alte Videoaufnahmen von Protesten im Internet verbreitet wurden, herrscht selbst bei lokalen Medien und Menschenrechtsgruppen keine Gewissheit über das Ausmaß.

Nach Informationen zweier ägyptischer NGOs sind jedoch mindestens 735 Menschen aus 17 Provinzen in Zusammenhang mit den Protesten verhaftet und dem Staatsanwalt vorgeführt worden. Mada Masr spricht mit Verweis auf anonyme Quellen inzwischen von rund 2.000 Verhaftungen. Laut der Menschenrechtsgruppe Arabic Network for Human Rights Information (ANHRI) und Anwälten müssen sich die meisten Festgenommenen wegen »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung«, »Veröffentlichung und Verbreitung von Falschnachrichten«, »Missbrauch sozialer Medien« oder Verstößen gegen Ägyptens drakonisches Protestgesetz, das Demonstrationen faktisch verbietet, verantworten.

Als Auslöser der Proteste gelten die katastrophale soziale Lage, aber auch im Internet veröffentlichte Videos des ägyptischen Bauunternehmers Mohammed Ali, der dazu aufrief, gegen das Regime von Präsident Abdel Fattah Al-Sisi auf die Straße zu gehen. Der im spanischen Exil lebende Ali hatte Al-Sisi und der Militärführung bereits vor einem Jahr in einer Reihe aufsehenerregender Videos Korruption und Verschwendung öffentlicher Gelder vorgeworfen und zu Protesten aufgerufen. Nachdem damals tatsächlich Hunderte Menschen seinem Aufruf gefolgt waren, ließ der Sicherheitsapparat innerhalb weniger Wochen mehr als 4.000 Menschen inhaftieren.

In Oppositions- und Aktivistenkreisen waren Alis »Enthüllungen« und vor allem die Protestaufrufe jedoch sehr verhalten aufgenommen worden, schließlich hatte der sich als Whistleblower bezeichnende Unternehmer selbst jahrelang Geschäfte mit Ägyptens Armee gemacht. Sowohl 2019 als auch in den vergangenen zwei Wochen fielen seine Aufrufe allerdings auf fruchtbaren Boden. Denn die Kürzungspolitik der Regierung und der coronabedingte Kollaps des Tourismussektors haben die soziale Misere im Land zuletzt extrem verschärft.

Al-Sisis Regime goss zudem jüngst zusätzlich Öl ins Feuer als die Regierung entschied, als »illegale Bauten« bezeichnete, informell errichtete Wohnhäuser abreißen zu lassen. Das sorgte schon Anfang September für Unruhe und sogar Proteste, hatten doch über Nacht Tausende Menschen ihr Dach über dem Kopf verloren.

© Sofian Philip Naceur 2020

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