EU-Abschottungspolitik – Wiener Expertise

Bisher wurde die EU-Grenzauslagerungspolitik nach Nordafrika und die Abschottung der südlichen Außengrenzen federführend vor allem von Deutschland, Italien und Frankreich vorangetrieben. Doch Österreich und ein in Wien ansässiges Institut, das sich als »internationale Organisation« bezeichnet, verstärken ihre Aktivitäten in Sachen Ausbau des EU-Grenzregimes im Mittelmeerraum zunehmend. Erst vergangene Woche kündigte die österreichische Regierung ein neues Vorhaben in Tunesien an. Im Rahmen des mit 8,3 Millionen Euro dotierten Projekts sollen Polizisten aus Österreich und Dänemark ab 2022 tunesische Grenzbeamte ausbilden. In der Kleinstadt Nefta in der Provinz Tozeur nahe der algerischen Grenze soll eigens dafür ein Trainingscamp errichtet werden (erschienen in junge Welt am 3.7.2020).

»Auch die tunesische Grenze ist eine österreichische Grenze, wenn es darum geht, irreguläre, illegale Migration zu verhindern«, erklärte Österreichs Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) letzte Woche während einer Pressekonferenz, auf der das neue Kooperationsprojekt mit Tunesien erstmals öffentlich vorgestellt wurde. Österreich sagte fast eine Million, Dänemark 3,4 Millionen und Deutschland 3,9 Millionen Euro Fördergelder zu.

Koordiniert wird das Projekt vom »International Centre for Migration Policy Development« (ICMPD) mit Sitz in Wien. Der frühere österreichische Vizekanzler Michael Spindelegger (ÖVP) bezeichnete sein Institut kurz nach seiner Ernennung zum ICMPD-Direktor 2016 als »zwischenstaatliche Mediationsplattform und Thinktank für migrationspolitische Zukunftsfragen«. Zwar fungierte die 1993 gegründete Organisation zunächst durchaus als eine Art Denk- und Koordinierungsfabrik, die Studien mit Migrationsbezug veröffentlichte und zwischenstaatliche Dialoge zum Thema lancierte. Seit Spindeleggers Übernahme der ICMPD-Leitung mauserte sich das nach eigenen Angaben in über 90 Ländern aktive Institut jedoch zu einer der zentralen Organisationen, die EU-Grenzabschottungsprojekte in Nordafrika umsetzen.

Für den 2015 aufgelegten EU-Treuhandfonds für Afrika koordiniert das ICMPD insgesamt sechs Projekte, für die zusammen rund 102 Millionen Euro bereitgestellt wurden. Die Organisation ist gemeinsam mit Italiens Innenministerium mit der Umsetzung des »Border Management Programme for the Maghreb Region«(BMP-Maghreb) betraut, unter dessen Dach Tunesien und Marokko mit Trainings und Ausrüstung für die Überwachung der Grenzen versorgt werden. 70 Prozent der Projektgelder (35 Millionen Euro für Marokko, 20 Millionen für Tunesien) sind allein für die Materialbeschaffung vorgesehen.

Schon 2019 bestätigte das ICMPD den Kauf von Fingerabdruckscannern im Wert von 1,6 Millionen Euro, mehr als 300 Polizeifahrzeugen und 227 Motorrädern für 8,9 Millionen und Funkausrüstung für 2,1 Millionen Euro zugunsten marokkanischer Behörden. Erst im Juni veröffentlichte das Institut die ersten Ausschreibungen für Materialkäufe zugunsten Tunesiens unter dem Dach des BMP-Maghreb. Auf der Einkaufsliste stehen bislang ferngesteuerte Fahrzeuge, Sonar- und Radargeräte sowie Wärmebildkameras für Tunesiens Nationalgarde, die nicht nur weite Teile der Landgrenzen zu Algerien und Libyen kontrolliert, sondern auch für die polizeiliche Küstenwache verantwortlich ist – der zentralen Polizeieinheit für die Verhinderung der »irregulären« Migration nach Italien.

Das ICMPD dürfte seine zentrale Rolle in Sachen Grenzabschottung in Nordafrika derweil künftig weiter ausbauen, schloss sich doch Deutschland auf Initiative der Bundesregierung erst im Mai dem ICMPD als 18. Mitgliedstaat offiziell an. Wie das Bundesinnenministerium in seiner Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag erklärte, zielt der Beitritt darauf ab, die »Zusammenarbeit in den von ICMPD geführten Konsultations- und Kooperationsprozessen« zu optimieren. Berlin erhält durch den Beitritt Stimmrechte in der politischen Steuerungsgruppe des Instituts.

© Sofian Philip Naceur 2020

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