Das neue Demonstrationsgesetz sorgt weiterhin für Zündstoff in Ägypten. Auch am Sonntag fanden erneut landesweit Proteste gegen das umstrittene Regelwerk statt. Mehrere hundert Anhänger der Muslimbrüder versammelten sich auf dem Campus der Cairo University in Giza und zogen zum Tahrir Platz im Herzen der ägyptischen Hauptstadt Kairo, um gegen das Gesetz zu protestieren und dem Tod des Studenten Mohamed Reda zu gedenken, der erst am Donnerstag bei Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten getötet worden war. Sicherheitskräfte gingen mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die Protestler vor, dutzende Menschen wurden verhaftet. Die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, der politische Arm der Muslimbrüder, hatte zu Demonstrationen aufgerufen und sich den Protesten zahlreicher säkularer politischer Organisationen angeschlossen. Auch an Universitäten in Beni Suef, Assiut und Minya in Oberägypten kam es zu Protesten islamistischer und säkularer Studentengruppen und Ausschreitungen mit der Polizei (erschienen in Junge Welt am 3.12.2013).
Grade die Hochschulen am Nil waren zuletzt regelmäßiger Schauplatz von regierungskritischen Protesten, vor allem von Anhängern der Muslimbrüder, die seit Wochen auf dem Campus der theologischen Al-Azhar Universität im Osten Kairos demonstrieren und sich immer wieder Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräfte lieferten. Säkulare linke und liberale Studentengruppen waren zuletzt deutlich aktiver geworden. Auf dem Campus der Cairo University, der mit über 200000 Studenten größten Hochschule Afrikas, fanden wiederholt rivalisierende Proteste von Anhängern und Gegnern des im Juli von der Armeeführung abgesetzten Ex-Präsidenten Mohamed Mursi und der regierenden Interimsregierung statt.
Bereits vor einer Woche, einen Tag nach Inkrafttreten des umstrittenen Demonstrationsgesetzes, versammelten sich hunderte Demonstranten in der Innenstadt Kairos und protestierten gegen das Gesetz. Das Regelwerk sei ein Schlag gegen die Versammlungsfreiheit und kriminalisiere Streiks und Demonstrationen, heißt es. Das Gesetz sieht drakonische Strafen für die Teilnahme oder den Aufruf zu nicht genehmigten Demonstrationen oder Arbeitsniederlegungen vor und legalisiert explizit den Einsatz von scharfer Munition durch Sicherheitskräfte, sollten Demonstranten Anordnungen der Staatsmacht nicht Folge leisten. Die Menschenrechtsgruppe „Nein zu Militärtribunalen für Zivilisten“ hatte zu einer Kundgebung vor dem Shura-Rat, dem Oberhaus des ägyptischen Parlamentes, aufgerufen, in dessen Räumlichkeiten die verfassungsgebende Versammlung tagt und derzeit über den neuen Verfassungsentwurf abstimmt, über den im Januar per Referendum abgestimmt werden soll. Der Protest richtete sich insbesondere gegen die drohende Verabschiedung eines Verfassungsartikels, der die Militärgerichtsbarkeit für Zivilisten erlaubt und ihr damit Verfassungsrang einräumt. Die Polizei setze Tränengas und Wasserwerfer gegen die Kundgebung ein, rund 50 Menschen wurden verhaftet. Mehrere kurzweilig am Dienstag internierte Frauen haben inzwischen wegen sexueller Belästigung durch Polizeibeamte Anzeige gestellt. Sexuelle Belästigung von Frauen durch Sicherheitskräfte gehört schon seit der Revolution 2011 zum Alltag bei Protesten in Ägypten und wird in der Regel nicht geahndet.
Nur einen Tag nach der gewaltsamen Auflösung der Proteste am Dienstag zogen rund 6000 Demonstranten aus dem säkularen linksliberalen Lager durch das Stadtzentrum Kairos, forderten die Rücknahme des Gesetzes und sprachen sich vehement gegen die Legalisierung von Militärtribunalen für Zivilisten aus. Das Innenministerium hatte kurzfristig grünes Licht für die Demonstration gegeben. Sicherheitskräfte waren vor Ort, griffen aber nicht ein. Unterdessen reagierte die Regierung auf die anhaltende Kritik am neuen Demonstrationsgesetz. Premierminister Hazem El-Beblawi kündigte die Einberufung einer Kommission zur Revision des Gesetzes an. Innerhalb des Kabinetts gibt es Unstimmigkeiten über das Regelwerk. Mit einer umfassenden Liberalisierung des restriktiven Textes wird gemeinhin nicht gerechnet.
© Sofian Philip Naceur 2013