Zehntausende versammelten sich Freitag in Kairo und zeigten ihre Unterstützung für Ägyptens umstrittenen Präsidenten. Eine Woche vor Massenprotesten der Opposition wollen die Muslimbrüder Stärke demonstrieren. Letzten Freitag folgten mehrere zehntausend Menschen den Aufrufen von rund einem Dutzend islamistischer Parteien und Organisationen und versammelten sich an der Rebaa Moschee in Nasr City, einem Stadtteil im Osten Kairos. Aufgerufen zu der Solidaritätskundgebung für Ägyptens Staatspräsident Mohamed Mursi hatte unter anderem die Muslimbruderschaft und ihr politischer Arm, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), aus dessen Reihen Mursi entstammt. Der konservative Präsident steht innenpolitisch zunehmend unter Druck. Oppositionsparteien und Jugendgruppen mobilisieren bereits seit Wochen für eine Massendemonstration gegen Regierung und Staatspräsident am 30. Juni anlässlich des Jahrestages von Mursis Amtsantritt vor einem Jahr. Der TV-Kanal der Bruderschaft Misr25 berichtete von über zwei Millionen Teilnehmern bei der Demonstration in Nasr City, eine stark übertriebene Zahl. Wie so oft bei Protesten des islamischen Blocks in der Hauptstadt sind offenbar auch diesmal tausende Anhänger der Muslimbrüder aus allen Teilen des Landes mit Minibussen nach Kairo transportiert worden. Rund um das Denkmal des unbekannten Soldaten in Heliopolis waren ganze Straßenzüge mit Kleinbussen zugeparkt. Die beiden größten Städte des Landes Kairo und Alexandria gelten als Hochburgen der Opposition, FJP und Muslimbrüder nutzen daher bei Kundgebungen in Kairo gerne ihren hohen flächendeckenden Organisationsgrad und schaffen ihre Anhänger aus ganz Ägypten heran.
Nach den Freitagsgebeten fanden in zahlreichen Städten Ägypten Proteste gegen die Politik der Regierung statt, unter anderem in Alexandria, Suez und Port Said. In Mahalla al-Kubra, einer Industriestadt im Nil-Delta, in Alexandria und in Fayoum südlich von Kairo kam es zu Ausschreitungen zwischen Unterstützern und Gegnern des Präsidenten. Die Großdemonstration in Kairo fand unter dem Banner „Nein zu Gewalt“ und „Verteidigung der Legitimität des Präsidenten“ statt. Seit Monaten sammeln Oppositionsaktivisten im Rahmen der Tamarod- oder Rebell-Kampagne Signaturen für Mursis Absetzung und vorgezogene Präsidentschaftswahlen. Erklärtes Ziel der Kampagne sind 15 Millionen Unterschriften, in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen 2012 vereinigte Mursi nach offiziellen Angaben rund 13 Millionen Wählerstimmen auf sich. Letzte Woche gab die Tamarod-Leitung bekannt man habe das Ziel erreicht. Der islamistische Block um die FJP startete vor wenigen Wochen eine Gegenkampagne und verkündete jüngst rund 11 Millionen Unterschriften gesammelt zu haben.
Zeitgleich fanden mehrere Proteste in Kairo gegen die Muslimbruderschaft statt, unter anderem in Imbaba am westlichen Nilufer und vor dem Verteidigungsministerium in Heliopolis nahe des Aufmarsches der Mursi-Unterstützer in Nasr City. Insbesondere der zweite Protestzug sorgte für einigen Unmut in den Reihen der Opposition, riefen die Demonstranten doch explizit die Armee dazu auf die exekutive Macht zu übernehmen und Mursi aufzufordern innerhalb von 48 Stunden zurückzutreten. Der Kopf des Verfassungsgerichtes solle als Interimspräsident und Verteidigungsminister Abdel Fattah Al-Sisi, ein hoher Armee-General, als Vizepräsident eingesetzt werden bis Neuwahlen durchgeführt würden. Mursi bezeichnete die Rücktrittsforderung als „absurd und illegal“, er werde sich einem demokratischen Votum bei den für 2016 geplanten Präsidentschaftswahlen beugen und sollte er abgewählt werden verfassungsgemäß die Macht übergeben. FJP-Generalsekretär Hussein Ibrahim machte unterdessen die Oppositionsführer Amr Moussa, Mohamed El-Baradei und Hamdeen Sabahi für den Ausbruch der Gewalt in mehreren Provinzen Ägyptens am vergangenen Freitag verantwortlich: „Certain power-seeking parties spend billions on hired thugs in order to push this homeland into anarchy, chaos and lawlessness, with flimsy political cover. (..) There are calls for action, apparently for political demands, but in fact for bloodshed, violence and vandalism.”
Bei der Demonstration am Freitag in Nasr City wurde erneut der widersprüchliche Umgang der Bruderschaft mit Presseorganen deutlich. Während viele Demonstrationsteilnehmer pauschal „die Medien“ beschuldigten über Mursi und seine Politik Lügen zu verbreiten, wurden mehrere TV-Sender bei ihrer Berichterstattung über die Kundgebung behindert. Die Website der staatlichen ägyptischen Tageszeitung Ahram berichtet die Teams der beiden Privatkanäle ONTV und CBC, die als regierungskritisch gelten, seinen beleidigt worden. Auch die Al Jazeera-Korrespondentin Rawya Rageh musste am frühen Nachmittag die Aufzeichnung eines Berichtes abbrechen. Die umstehenden Demonstranten hielten sie offenbar für eine CBC-Reporterin und bewarfen das auf dem Dach ihres Übertragungswagens stehende TV-Team mit Wasserflaschen. Anschließend wurde sie von einem Mitglied der Organisatoren der Proteste aufgefordert vom Dach des Wagens zu steigen und abzubrechen.
Andererseits stellten sich viele Teilnehmer der Demonstration bereitwillig für Gespräche mit der Presse zur Verfügung. Ismail Said, ein pensionierter Oberst der Luftwaffe aus Ismailija, betonte Ägypten sei auf dem demokratischen Pfad angekommen und dieser funktioniere nur Schritt für Schritt. Auch er beschuldigte „die Medien“ der Lüge, wenn sie über Ägyptens Regierung und Präsident Mursi berichten. Mursi sei Teil und Ergebnis der Revolution und der erste zivile Präsident des Landes seit dem Militärputsch Gamal Abdel Nassers 1952. Mursi solle weiterhin die revolutionäre Macht in den Händen halten und das System säubern. Er müsse die nächsten drei Jahre in Ruhe weiter regieren können, 2016 würden demokratische Wahlen über die Zukunft Ägyptens entscheiden. Er lehnt die Tamarod-Kampagne der Opposition strikt ab. Er habe mit Aktivisten der Kampagne gesprochen und niemand von ihnen scheine eine Vision für die Zukunft des Landes oder nur eine entfernte Idee zu haben, wie es weitergehen solle. Sie würden schlicht alles ablehnen.
Ahmed Mohamed, ein Englischlehrer aus Mansoura im Nil-Delta, äußerte sich besorgt zu den am 30. Juni anstehenden Protesten der Opposition und sagte er befürchte es werde wieder Zusammenstöße geben. Er wolle friedlich für Mursi und die Regierung demonstrieren. Auch er lehnt die Tamarod-Kampagne kategorisch ab. Die Aktivisten sollen das demokratische Prinzip akzeptieren und die kommenden Wahlen abwarten, wenn sie mit der Politik von Regierung und Staatspräsident nicht zufrieden seien. Auch verurteilte er die Streik- und Protestbewegung, die Ägypten seit Mursis Amtsantritt komplett lahm legen würden. Die Opposition solle den Weg durch die Institutionen gehen und die demokratischen Spielregeln akzeptieren. Wie könne man in diesem permanenten instabilen politischen Zustand etwas an der wirtschaftliche Lage verbessern, fragte er.
Konsistente wirtschaftspolitische Ideen scheinen bei den Muslimbrüdern jedoch schlicht nicht vorhanden zu sein. Die Regierung hofft vielmehr darauf in den Genuss eines fünf Milliarden US-Dollar schweren Kredits des Internationalen Währungsfond zu kommen, der wie üblich an harte Auflagen geknüpft ist. Unter anderem soll Kairo für die Gewährung dieses Kredits seine Brot- und Benzinsubventionen massiv zusammenkürzen. Vor allem die Brotsubventionen sind für viele Menschen in Ägypten jedoch überlebenswichtig und dürften den Unmut über die fatale Wirtschaftspolitik der FJP weiter anheizen. Die derzeitige Wirtschaftsflaute in Ägypten ist zudem bisher nur deshalb nicht vollends eskaliert, da Saudi-Arabien und Katar Anleihen gekauft haben und Libyen ein zinsfreies Darlehen in Höhe von zwei Milliarden US-Dollar bereitgestellt hat. Die FJP setzt weiter konsequent auf einer Fortführung der neoliberalen Wirtschaftspolitik Hosni Mubaraks inklusive Öffnung der Märkte für ausländisches Kapital, Privatisierungen und kreditfinanzierten Importen von Lebensmitteln und Konsumgütern. Diese Politik hat bereits seit den 1980er Jahren weite Teile der Bevölkerung in die Armut getrieben und ist vor dem Hintergrund der angespannten wirtschaftlichen Lage eine explosive Strategie.
Mursi setzt zudem innenpolitisch weiterhin auf Provokation. Erst letzte Woche hatte er 17 Gouverneursposten mit sieben Mitglieder der Muslimbruderschaft, sechs Angehörige von Militär und Polizei und drei Unabhängige neu besetzt. Insbesondere die Ernennung Abdel Al-Khayat zum Gouverneur von Luxor hat in Ägypten und im Ausland viel Staub aufgewirbelt. Al-Khayat ist ein Gründungsmitglied der radikalislamistischen Gamal Islamiya, die für das Luxor-Massaker 1997 verantwortlich gemacht wird. Damals hatten militante Mitglieder der Gruppe an einer Tempelanlage 58 Menschen getötet. Ägyptens Tourismusminister Hisham Zaazou trat als Reaktion auf die Ernennung Al-Khayats von seinem Amt zurück. Kurz darauf verkündete der stellvertretende Vorsitzende des politischen Arms der Gamal Islamiya Safwat Abdel-Ghani die Partei sei von der Entscheidung Mursis Al-Khayat als Gouverneur einzusetzen nicht unterrichtet worden und forderte ihn auf das Amt nicht anzunehmen, um eine Konfrontation zu vermeiden. Mursi hat nun die Chance bei der neuerlichen Wahl eines Gouverneurs für die Provinz Luxor etwas mehr Fingerspitzengefühl an den Tag zu legen.
Unterdessen hat das Organisationskomitee für die Kundgebungen am 30. Juni, das sich aus Vertretern von über 30 Parteien und Organisationen zusammensetzt, einen Aktionsplan für die kommende Woche vorgestellt. Man verurteile jedwede Aufrufe an den Sicherheitsapparat und die Armeeführung die Macht zu übernehmen und plant für jeden Tag kleinere Demonstrationen im Großraum Kairo. Neben Kundgebungen in Shubra im Norden der Hauptstadt und Sayda Zeinab in der Kairoer Innenstadt soll am Dienstag in zahlreichen Metro-Stationen Kairos nochmals massiv für die Tamarod-Kampagne geworben werden. Bis zum Beginn des Fastenmonats Ramadan Anfang Juli blickt Ägypten einigen unruhigen und protestreichen Tagen entgegen.
© Sofian Philip Naceur 2013