Die Wahl Mohamed Mursis zum Staatspräsidenten Ägyptens war eine Zäsur – und die Restauration des alten Regimes.
Der schmucklose Tahrir-Platz, eine Hauptverkehrskreuzung im Herzen Kairos ist wie kein anderer Ort das Symbol für die Revolution, die im Februar 2011 nach wochenlangen Massenprotesten den langjährigen Despoten Hosni Mubarak zum Rücktritt zwang. Vor Zehntausenden, die am 29. Juni 2012 wieder auf den Platz strömten, beschwor das damals frisch gewählte Staatsoberhaupt Mohamed Mursi er wolle der „Präsident aller Ägypter sein“, der Muslime wie der Christen, deren Rechte er schützen werde. Er respektiere den Willen des Volkes und werde nach über 60jähriger Herrschaft des vom Militär dominierten politischen Systems endlich einen zivilen Staat schaffen. „Keine Macht steht über der Macht des Volkes“, sagte Mursi bei dieser inoffiziellen Antrittsrede, bevor er am Tag darauf seinen Amtseid ablegte (erschienen in Junge Welt am 29.6.2013)
Mursi ist seit dem Militärputsch der Freien Offiziere 1952, der die Monarchie König Faruks stürzte, der fünfte und erste zivile Präsident Ägyptens. Bei den ersten freien Präsidentschaftswahlen Ägyptens im Sommer 2012 setzte er sich in der zweiten Runde knapp gegen Ahmed Shafik durch, den von Armee und alten Regimekadern favorisierten Kandidaten und ehemaligem Premierminister unter Mubarak. Bei seiner Antrittsrede auf dem Tahrir schob Mursi auf der Rednertribüne öffentlichkeitswirksam seine Leibwächter zur Seite. Er habe keine Angst vor dem Volk, so die Symbolik dieser Geste, er sei Teil des Volkes. Der 52jährige wuchs in einem Dorf im Nil-Delta in einfachen Verhältnissen auf. Nach dem Abschluss eines Studiums ging er in die USA, erwarb die Doktorwürde und kehrte in den 1980ern nach Ägypten zurück. Ende der 1970er Jahren trat er der Muslimbruderschaft bei. Nach der Revolution war er Vorsitzender des politischen Arms der Organisation, der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), legte das Amt nach seinem Wahlsieg jedoch nieder.
Nach einem Jahr an der Macht zieht das Volk Bilanz und diese fällt düster aus, auch wenn sich vor einer Woche rund 50.000 Anhänger des Präsidenten zu einer Kundgebung in Kairo versammelten, um ihre Unterstützung für Ägyptens umstrittenen Staatschef zu demonstrieren. Die Wirtschaft steht kurz vor dem Kollaps, Sicherheitskräfte gehen nach wie vor mit Gewalt gegen Proteste der Opposition und Streiks vor, die Regierung versucht immer wieder die Versammlungs- und Meinungsfreiheit einzuschränken und zerrt kritische Journalisten vor Gericht. Der TV-Satiriker Bassem Yousef wurde im April verhaftet, auf Kaution freigelassen und wegen Präsidentenbeleidigung angezeigt. Ein Gesetzesentwurf, der die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen regeln soll und in Kürze verabschiedet werden dürfte, wird von Vielen als Versuch gewertet die Zivilgesellschaft mundtot zu machen und unter staatliche Kontrolle zu stellen. Frauen werden in der Öffentlichkeit zunehmend belästigt, Übergriffe gegen sie gehören zum Alltag und die Männer bleiben oft straffrei und müssen sich nicht vor Verurteilungen fürchten. Minderheiten wie die koptischen Christen, die rund zehn Prozent der Bevölkerung stellen, klagen trotz der Worte des Präsidenten über die aufgeheizte Stimmung gegen sie.
Mohamed Mursis Wahl zum neuen Staatspräsidenten ist eine Zäsur für Ägypten, jedoch keineswegs ein revolutionärer Neuanfang. Für die Muslimbrüder ist die Wahl Mursis der Zenit ihrer politischen Macht, schließlich waren sie seit ihrer Gründung 1928 verboten, verfolgt und von der politischen Macht ausgeschlossen. Umso kompromissloser versuchen sie nun der ägyptischen Gesellschaft ihren Stempel aufzudrücken. Die Hoffnung vieler Menschen durch freie Parlaments- und Präsidentschaftswahlen die verkrusteten Herrschaftsstrukturen aufbrechen und die Wirtschaftskrise überwinden zu können, in der das Land seit der Revolution 2011 fest steckt, ist Ernüchterung gewichen. Mursis erstes Amtsjahr wurde ununterbrochen begleitet von Arbeitskämpfen und Protesten der Opposition gegen seine Politik und eine befürchtete schleichende Islamisierung der Gesellschaft unter dem wachsenden Einfluss der Muslimbrüder auf Ägyptens Intuitionen.
Schließlich setzen FJP und Muslimbruderschaft innenpolitisch verstärkt auf Konfrontation. Kurz nach seinem Amtsantritt ließ Mursi Führungsposten beim staatlichen Fernsehen und staatseigenen Zeitungen mit Getreuen besetzen. Mehrfach ersetzte er Provinzgouverneure mit Mitgliedern der Muslimbruderschaft oder Armeevertretern. Die neue Verfassung Ägyptens, die die Regierung im Schnellverfahren schreiben und verabschieden ließ und von vielen Menschen ob ihrer religiösen Note strikt abgelehnt wird, hat der Protestbewegung neuen Schwung verliehen und erneut Massenproteste ausgelöst, auf die die Zentralen Sicherheitskräfte (CSF), eine dem Innenministerium unterstellte paramilitärische Polizeieinheit, mit harter Hand reagierten. Auch unter Mursi hat sich am repressiven Umgang der Sicherheitskräfte mit friedlichen Protesten nichts geändert. Der Ausnahmezustand ist zwar offiziell aufgehoben, ein Menschenrechtler betont jedoch die neue Regierung habe „andere Möglichkeiten gefunden“ Menschen aus politischen Gründen zu verhaften.
Die desolate Wirtschaftslage hat sich unter Mursi derweil verschärft, die Krise ist zu einer existentiellen Bedrohung für die Armen geworden, während die Polarisierung zwischen Gegnern und Anhängern Mursis das Land lähmt. Doch die Revolution ist lebendiger denn je. Oppositionsgruppen und Parteien aus dem linken und liberalen Lager mobilisieren seit Wochen für eine Massendemonstration gegen die Politik der Regierung und den Einfluss der Muslimbrüder am 30. Juni, dem ersten Jahrestag von Mursis Amtsantritt. Im April starteten unabhängige Aktivisten eine Unterschriftenkampagne gegen den Präsidenten, die seine Absetzung und vorgezogene Neuwahlen fordert. Nach eigenen Angaben haben sie über 15 Millionen Unterschriften gesammelt. Unterstützer Mursis starteten eine Gegenkampagne und präsentierten ebenfalls beachtliche Zahlen. Ägyptens Gesamtbevölkerung liegt bei 82 Millionen Einwohnern, die Angaben beider Kampagnen muten daher schwer glaubwürdig an. Dennoch ist die die Anti-Mursi-Kampagne ein Symbol, ein Symbol für die Lebendigkeit der Revolution und ihre Ideale, die viele Menschen von den Muslimbrüdern verraten sehen. Nach einer Wortmeldung von Verteidigungsminister Abdel Fattah Al-Sisi, der betonte man werde hart gegen Gewalt vorgehen, fürchten Viele den erneuten Ausbruch von Gewalt während der Proteste. Mursi beschuldigte am Mittwoch erneut die Opposition das Land zu destabilisieren. FJP-Generalsekretär Hussein Ibrahim bezeichnete die Forderung der Opposition Mursi solle zurücktreten nicht als politische motiviert, sondern als Aufruf zu Vandalismus und Gewalt.
Dabei hatten die Präsidentschaftswahlen 2012 Erwartungen der Bevölkerung genährt den demokratischen Übergang endlich voran bringen zu können. Kurz zuvor hatte das Verfassungsgericht in Kairo die ersten freien Parlamentswahlen nach der Revolution für ungültig erklärt und die Volksvertretung aufgelöst. Zwischen Mubaraks Rücktritt und Mursis Amtsantritt wurde das Land interimsmäßig vom Obersten Militärrats (SCAF) autokratisch regiert. Es roch erneut nach Polizeistaat. Der SCAF setzte ebenso wie das Regime Mubaraks auf offene Repression gegen Demonstrationen. Proteste und Streiks richteten sich zunehmend gegen den Einfluss der Armee auf Ägyptens Politik und ihre Kompromisslosigkeit gegenüber der Demokratiebewegung. Das Maspero-Massaker und die Ausschreitungen in Kairo im Herbst 2011, bei denen zahlreiche Menschen durch die Gewaltanwendung der CSF starben, gelten als Zenit des postrevolutionären Konfliktes zwischen den in Ägyptens Institutionen verankerten Kadern des alten Regimes und revolutionären Kräften.
Doch schon die erste Runde der Präsidentschaftswahlen, bei der Mursi und Shafik in die Stichwahl zogen, dämpfte die Hoffnungen auf die Wende. „Ahmed Shafik ist das liberale Gesicht des alten Regimes, Mursi ist das islamische Gesicht des alten Regimes“, betont Mina Magdy von der Maspero Jugendunion, einer liberalen mehrheitlich christlichen Menschenrechtsgruppe und spielt damit darauf an, dass die Muslimbruderschaft bei den Parlamentswahlen 2005 mit 88 Abgeordneten als einzige organisierte Oppositionskraft ins Parlament einzog. Da die Organisation verboten war, traten sie als unabhängige Kandidaten an, das System Mubarak habe sie jedoch korrumpiert. 2010 flog die Bruderschaft wieder aus dem Parlament und dieses verkam erneut zu einem Debattierclub der Mubarak-Partei. Magdy stimmte in der Stichwahl für Shafik, um Mursi als vermeintlich schlechtere Alternative zu verhindern. Andere wiederum wählten Mursi, um Shafik vom Präsidentenamt fern zu halten. Es gab schlicht keinen Kandidaten, der die Ideale der Revolution vertrat.
Die FJP und Mursi geben sich zwar alle Mühe sich als Teil und Resultat der Revolution zu verkaufen, Fakt ist jedoch, dass die Bruderschaft erst spät zur Teilnahme an den Protesten gegen Mubarak aufgerufen hat. Die Gruppen, die die Revolution von Beginn an voran getrieben haben, bangen heute um die Ideale des Aufstandes, schließlich ist durch die Präsidentschaftswahlen eine Organisation an die Macht gespült worden, die mit aller Gewalt die politische Macht monopolisiert, den außenpolitischen Status Quo verteidigt und die Hauptforderung der Protestler „Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit“ sowie die Rechte von Frauen, Christen, Oppositionellen und Armen schlichtweg ignoriert. Mit der Amtsübernahme Mursis konnten die Herrschaftsverhältnisse eines korrupten Systems weitgehend restauriert werden.
Kaum im Amt legte sich der Präsident sogleich mit den Militärs an und erklärte per Dekret die Auflösung des Parlaments für ungültig. Die schon im Herbst 2011 gewählte Volksvertretung wurde von der FJP und der radikal-salafistischen Nour-Partei dominiert, linke und liberale Kräfte waren in der Minderheit. Der Anschlag auf einen ägyptischen Grenzposten auf der Sinai-Halbinsel an der israelisch-ägyptischen Grenze, bei dem 16 ägyptische Soldaten starben, bot die Gelegenheit für Militärs und Muslimbrüder hinter den Kulissen eine Machtteilung zu vereinbaren, bei der beide ihr Gesicht wahren konnten. Feldmarschall Hussein Tantawi, langjähriger Verteidigungsminister und bis zu Mursis Amtsantritt faktisches Staatsoberhaupt Ägyptens, trat zurück und die Armee zog sich aus der ersten Reihe des politischen Geschehens zurück. Freilich nicht, ohne die eigenen Privilegien abzusichern. Ägyptens Militär gilt als enger Verbündeter von USA und EU, als Bollwerk gegen den radikalen Islamismus und als Garant des Friedensvertrages mit Israel. Das Camp-David-Abkommen von 1979 legitimiert bis heute die enge militärische Zusammenarbeit Kairos mit dem Westen. Washingtons Militärhilfen für Ägypten übersteigen zivile Hilfsgelder für Kairo um ein vielfachen und liegen jährlich bei 1.3 Milliarden US-Dollar.
Neben der geopolitischen Bedeutung Ägyptens für die USA und Europa hat das Land am Nil eine zentrale wirtschaftliche Stellung im Außenhandel des Westens. Der Suez-Kanal ist nicht nur für die US-Marine eine wichtige Transitroute, Deutschlands Exportwirtschaft ist auf den Kanal als Handelsstraße zwingend angewiesen. Ägypten ist ein Billiglohnland. Unzählige Firmen aus den USA und Europa strömten auf den ägyptischen Markt, um hier kostengünstig und steuerfrei zu produzieren und ob der neoliberalen Wirtschaftpolitik des Mubarak-Regimes Ägyptens Binnenmarkt mit Waren zu überschwemmen. In den 1980er Jahren begannen Kairo und Washington eng bei der Deregulierung der ägyptischen Wirtschaft zusammenzuarbeiten. Die Privatisierung hunderter Staatsunternehmen öffnete der Korruption Tür und Tor, begünstigte den ökonomischen Aufstieg einer kleinen mit den politischen Machthabern Ägyptens verbündeten Elite und ließ die Kosten für Bildung und Gesundheit explodieren, da auch diese Sektoren vom neoliberalen Geist nicht verschont blieben. Ägypten entwickelte sich mehr und mehr zu einer Exportökonomie, in der zunehmend bestimmte Güter wie Baumwolle gezielt für den Weltmarkt angebaut wurden, während im Inland benötigte Erzeugnisse wie Weizen vermehrt importiert werden mussten. Ägypten ist heute der weltweit größte Importeur von Weizen.
Die mit dieser Politik einhergehende Prekarisierung des Arbeitsmarktes führte zur massiven Verarmung weiter Teile der Bevölkerung. Die noch von Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser eingeführte Landreform wurde rückgängig gemacht und die neue wirtschaftspolitische Strategie begünstigte große Agrarbetriebe, während die Kleinbauern mit den Preisen der importierten landwirtschaftlichen Güter nicht mehr mithalten konnten. Heute ist rund ein Drittel der ägyptischen Bevölkerung von subventioniertem Brot abhängig. Trotz Ägyptens Erdgas- und Erdölförderung müssen auch Treibstoffe importiert werden, da das Land nur über unzureichende Raffineriekapazitäten verfügt. Auch Benzin und Diesel werden subventioniert. Ägypten exportiert Rohstoffe, beschafft sich somit Devisen, um damit wiederum den Import von Weizen und Diesel bezahlen zu können. Ägypten steckt in einem Teufelskreis fest, der die Mehrheit der Bevölkerung in die Armut getrieben und einer kleinen privilegierten Elite grenzenlosen Reichtum ermöglicht hat.