Der führende Hamas-Funktionär Machmud Al-Zahar betonte gegenüber der staatsnahen ägyptischen Tageszeitung Al-Ahram und als Antwort auf Vorwürfe Hamas stünde hinter dem Überfall, diese habe nichts mit dem Angriff zu tun. Im Gegenteil, Hamas sorge sich um Ägyptens Sicherheit und würde niemals Waffen auf die ägyptische Armee richten. Währenddessen berichtet Al-Ahram der einzige Grenzübergang zwischen Ägypten und dem Gaza-Streifen in Rafah sei Sonntagabend geschlossen worden. Kurz nach seiner Amtseinführung vor fünf Wochen hatte Präsident Mursi noch angekündigt den Grenzverkehr zwischen Gaza und Rafah in Ägypten zu lockern – trotz massiver Kritik seitens der israelischen Regierung. Während die israelische Tageszeitung Haaretz schreibt, im israelischen Grenzgebiet seien gestern zahlreiche aus dem Gaza-Streifen abgeschossene Raketen eingeschlagen, beruft sich Al-Ahram auf Augenzeugenberichte und berichtet über Artillerie- und Granatenangriffe der israelischen Luftwaffe auf den Gaza-Streifen.
Die sicherheitspolitische Eskalation auf dem Sinai und im Gaza-Streifen sowie die Rhetorik von Präsident Mursi und Ägyptens mächtigen Militärs um den SCAF-Chef und neu inthronisierten Verteidigungsminister Feldmarschall Hussein Tantawi sind zudem Anzeichen einer Beruhigung der innenpolitischen Instabilitäten in Ägypten nach Mursis Amtsantritt Ende Juni. Die Dissonanzen zwischen den herrschenden Militärs und den Mursi nahe stehenden Muslimbrüdern, die aus den ersten Parlamentswahlen in der Post-Mubarak Ära als klare Siegerin hervorgegangen waren, gipfelte im Juli in der Widereinsetzung des Parlamentes durch Präsident Mursi per Dekret. Das Verfassungsgericht, das auf Grundlage der Interimsverfassung von 2011 operational tätig ist, hatte kurz zuvor das ägyptische Unterhaus für verfassungswidrig erklärt, kurzerhand aufgelöst und damit nach der kurzweiligen Beruhigung der innenpolitischen Situation in Ägypten fast eine Staatskrise ausgelöst. Der SCAF vollzog vor und nach Bekanntgabe des Wahlsieges von Mursi eine Reihe an Manövern zur Machtbeschränkung des neuen Präsidenten, vor allem um den wirtschaftspolitischen und außenpolitischen Status Quo Ägyptens und der privilegierten Machtposition des Militärs abzusichern.
Anfang Juli besuchten der deutsche Außenminister Guido Westwelle und US-Außenministerin Hillary Clinton Ägypten und trafen sich demonstrativ mit dem neu gewählten Staatsoberhaupt. Der Westens ist an einer zügigen Stabilisierung des Landes und einer Integration der Muslimbrüder in den ägyptischen Staats- und Machtapparat interessiert, schließlich bieten sich die Muslimbrüder aufgrund ihrer wirtschaftliberalen Ausrichtung als neuer strategischer Partner am Nil geradezu an. Doch für eine innenpolitische Stabilisierung am Nil ist die Beendigung des Machtkampfes zwischen Militärs und Muslimbrüder dringend notwendig, die Integration der Muslimbrüder und ihres politische Arms, der Freedom and Justice Party, ist nicht nur zur Erhaltung des wirtschaftpolitischen Status Quo dringend geboten, sondern auch vor dem Hintergrund der Bedeutung Ägyptens für den Nahostkonflikt und der Spekulationen um die mögliche Aufkündigung des Friedensvertrages zwischen Tel Aviv und Kairo, sollten die Konservativen in die Exekutive eintreten.
Der Machtkampf zwischen SCAF und den Muslimbrüdern in der ersten Julihälfte war gewissermaßen ein Ausloten gegenseitiger Stärken und Schwächen, beide Akteure wissen ob ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und scheinen sich nun nach einem zweiwöchigen Hahnenkampf einander anzunähern. Erst vergangene Woche verkündete Ägyptens neuer Premier Hesham Qandil die Zusammensetzung des neuen Kabinetts. Nicht ganz überraschend übernimmt Tantawi, SCAF-Chef und langjähriger Verteidigungsminister, auch in der neuen Regierung das Amt des politischen Vertreters der Armee und sichert den Generälen damit einen wichtigen Posten im Kabinett und direkten politischen Einfluss. Noch am Sonntag betonte Präsident Mursi in einer Rede in Ismailia die Bedeutung der Armee für die Stabilität Ägyptens, sprach den Militärs Verantwortung in außenpolitischen Belangen zu und verteidigte die Generäle gegen kritische Äußerungen. Alles deutet darauf hin, dass sich die beiden mächtigen politischen Blöcke am Nil miteinander arrangiert haben, die Konterrevolution findet damit ihr vorläufiges Ende und der Status Quo in wirtschafts- und außenpolitischen Belangen scheint gesichert. Der Sinai-Zwischenfall und die gemeinsame Rhetorik von Militärs und Präsidentenbüro sind zudem Anzeichen einer gemeinsamen Position im Nahostkonflikt, der Friedensvertrag mit Israel wird mit den Muslimbrüdern an der Macht vorerst nicht in Frage gestellt. Wie die FJP und Präsident Mursi zukünftig operational mit dem Gaza-Streifen und dem Terrorproblem auf dem Sinai umgehen werden, bleibt abzuwarten. Die Widersprüche zwischen einer propalästinensischen Politik und der Stabilisierung der ägyptisch-israelischen Beziehungen ist ein heikler Drahtseilakt für Mursi.
© Sofian Philip Naceur 2012