Ägypten: „Seit 1977 keine Zukunftsperspektive für die Jugend“

Massives Bevölkerungswachstum und soziale Ungleichheit sind schier unlösbare Probleme, aber das Land ist erstaunlich anpassungs- und widerstandsfähig (erschienen bei Telepolis am 7.3.2018)

Im Januar 1977 erschütterten sogenannte „Brotunruhen“ das wirtschaftlich angeschlagene Ägypten. Kurz zuvor hatte Präsident Anwar Al-Sadat staatliche Subventionen auf Grundnahrungsmittel und Treibstoffe senken lassen und damit den Forderungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) nachgegeben.

Doch nach zweitägigen Ausschreitungen zwischen aufgebrachten Demonstranten und der Polizei, bei denen landesweit über 70 Menschen getötet und rund 1.000 verhaftet wurden, sah sich Sadat gezwungen, die Kürzungen zurückzunehmen und die Verhandlungen mit dem IWF über einen Kredit in Höhe von 300 Millionen US-Dollar scheitern zu lassen. Die Regierung wandte sich stattdessen an die Golfstaaten, um das ausufernde Haushaltsdefizit im Griff behalten und ausstehende Schulden begleichen zu können.

Anschaulich zusammengefasst werden die Unruhen und ihr sozioökonomischer Kontext in einer Ende der 1970er Jahre produzierten Reportage der Nachrichtenagentur AP. Die Parallelen zur heutigen Wirtschafts- und Budgetkrise im Land sind offensichtlich.

Erschreckend an dem Film sind jedoch nicht nur die Ähnlichkeiten zwischen der 1977 und heute ebenso anspannten sozialen Lage, sondern die Beschreibungen urbaner und demographischer Entwicklungen in der ägyptischen Gesellschaft, die am Beispiel Kairos eindrucksvoll illustriert werden.

Der Film könnte fast unverändert und nur mit neueren Daten versehen auch heute ausgestrahlt werden. An Aktualität hat kaum ein hier aufgeworfener Aspekt verloren. Kairo stehe Ende der 1970er am Rande des wirtschaftlichen Kollaps‘, heißt es.

Die in ländlichen Regionen verbreitete Subsistenzwirtschaft biete vor allem der Jugend des Landes keine Zukunftsperspektive. Kairo wachse angesichts der Landflucht jährlich um rund 100.000 Menschen, die vom Arbeitsmarkt nicht absorbiert werden können und sich oft als informelle Straßenhändler durchschlagen müssen.

Für die einkommensschwache Bevölkerung seien nur Obst und Gemüse erschwinglich. Selbst Grundnahrungsmittel wie Zucker, Mehl und Speiseöl müssten subventioniert werden. Auch in Sachen Nahverkehr und Bevölkerungsdichte wird ein düsteres Bild der Lage geschildert:

3,5 Millionen Passagiere bewegen sich täglich im öffentlichen Verkehr, oder sie versuchen es. Aber das System ist derart überlastet, dass Fahrten durch die Stadt bis zu drei Stunden dauern, meist unter äußerst erschöpfenden Konditionen.

AP

AP verweist zudem auf das in den informellen Vierteln immer wieder zusammenbrechende und als marode geltende Wasser- und Abwassersystem, die begrenzte landwirtschaftlich nutzbare Fläche entlang des Nils und eine geschätzte Bevölkerungsdichte in Kairos informellen Siedlungen von bis zu 100.000 Menschen pro Quadratkilometer. Das Bevölkerungswachstum liege bei 1,5 Millionen Menschen pro Jahr und sei die größte Bedrohung von Ägyptens wirtschaftlicher Zukunft, so AP.

Heute wächst das Land sogar um bis zu zwei Millionen Menschen pro Jahr. Die Bevölkerung ist von damals rund 40 Millionen auf über 96 Millionen Menschen angewachsen. Rund 800.000 junge Menschen strömen jährlich zusätzlich auf den Arbeitsmarkt, der nicht ansatzweise mit dem Bedarf mithalten kann.

Selbst Akademikerinnen und Akademiker finden kaum noch Beschäftigung, verlassen wenn möglich das Land oder müssen sich im informellen Sektor durchschlagen. Auch heute sind fliegende Händlerinnen und Händler ein fester Bestandteil des Straßenbildes.

Die schiere Masse an Menschen, die vom informellen Verkauf von Taschentüchern, Haushaltsutensilien oder billiger Plastikware lebt, ist im Zuge der anhaltenden Wirtschaftskrise weiter gestiegen. Die Bevölkerung im Großraum Kairo ist derweil von damals rund zehn auf heute 23 Millionen angeschwollen und wachse neuen Schätzungen zufolge um rund 500.000 Menschen pro Jahr. Keine andere Stadt der Welt ist mit derartigen Wachstumsraten konfrontiert.

Im Umkehrschluss bedeutet das aber, dass sämtliche seit den 1970er Jahren an der Macht gewesene Regimes diese öffentlich bekannten Strukturprobleme sowie Dynamiken innerhalb der ländlichen Gesellschaft konsequent ignoriert und trotzdem weiterhin auf eine neoliberale, die Marginalisierung weiter Teile der Bevölkerung forcierende Wirtschafts- und Sozialpolitik gesetzt haben, die das Land heute vor schier unlösbare Herausforderungen stellt.

Sadat oder Ägyptens 30 Jahre lang regierender Expräsident, Hosni Mubarak, aber auch die kurzzeitig an die Macht gespülte Muslimbruderschaft und der amtierende autoritär regierende Präsident Abdel Fattah Al-Sisi – sie alle setzten auf das Verwalten und Aussitzen sozioökonomischer, demographischer und urbaner Entwicklungen und zeigten sich unfähig, inkompetent oder nicht willens, nachhaltigen Steuerungsinstrumenten eine Chance zu geben und damit langfristig ein ökologisch-soziales Gleichgewicht anzustreben.

Zwar prophezeite AP schon 1977 einen bevorstehenden Kollaps, das Land zeigt sich jedoch trotz Bevölkerungszuwachs, Wohnraum- und Wassermangel sowie der eklatanten sozialen Ungleichheit erstaunlich anpassungs- und widerstandsfähig.

Während sich die Regierung bis heute scheut, adäquat gegenzusteuern und weite Teile der Bevölkerung sich selbst überlässt, ist die informelle Selbstorganisation einer auf sich allein gestellten marginalisierten Masse bemerkenswert.

Heute jedoch stoßen die Kapazitäten des Nils, der 95 Prozent des Wasserverbrauchs im Land bereitstellt, an ihre Grenzen. Ob Ägypten und dessen natürliche Ressourcen weitere 40 Jahre lang derartige Bevölkerungszuwächse absorbieren können, ist hochgradig fraglich.

Umso dringender ist heute eine politische Steuerung, die sich der demographischen Entwicklung und der sozioökonomischen Ungleichheit annimmt und damit angesichts der fortschreitenden Versalzung des Nildeltas und der sich verschärfenden Wasserknappheit Vorsorge- und Vorsichtsmaßnahmen trifft.

Doch vor allem in Sachen Bevölkerungswachstum ist das einfacher gesagt als getan.

Denn das im Land und allen sozialen Schichten allgegenwärtige Dogma, Kinder zeugen zu müssen, hat eine fast ideologische Dimension und wird oft als familiäre und individuelle Pflicht betrachtet. Paare, die keine Kinder wollen, werden nicht nur von den eigenen Familien, sondern auch der Gesellschaft massiv unter Druck gesetzt.

Die Hintergründe dessen sind jedoch vielfältig und keineswegs nur auf mangelnde Aufklärung zu Themen wie Verhütung oder Familienplanung sowie der in Ägypten hohen Analphabeten-Rate zurückzuführen. Die in westlichen Wohlfahrtsstaaten nicht unüblichen Belehrungen über die vor Ort durchaus bekannten Konsequenzen eines ungebremsten Bevölkerungszuwachses in Entwicklungsländern greifen meist jedoch zu kurz und sind aufgrund verfehlter Interpretationen sozioökonomischer Dynamiken nur wenig hilfreich.

Das Dogma, Kinder zeugen zu müssen, hat in einem Land wie Ägypten zweifelsohne eine religiöse und traditionelle Dimension und ist angesichts der zunehmenden Hinwendung vieler Menschen zu religiöser geprägten Lebensentwürfen schwer zu durchbrechen. Doch nicht zu unterschätzende treibende Kräfte hinter dem Bevölkerungswachstum sind sozialer Natur.

Denn in einer von heftigen Klassengegensätzen geprägten Gesellschaft ohne nennenswertes soziales Sicherungsnetz oder selbstbestimmte Altersplanung mit entsprechender Infrastruktur – zwar gibt es in Ägypten Altersheime, doch viele Familien scheuen sich aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung Verwandte dort einziehen zu lassen – können Menschen im Falle von Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfähigkeit, Krankheit oder Alter nicht auf den Staat zählen, sondern sind zwingend auf die Familie angewiesen.

In der Mittelschicht ist das am weitesten verbreitete Argument für Kinder die Altersvorsorge. Die Betreuung älterer Menschen aus dem familiären Umfeld in den eigenen vier Wänden ist daher keine Seltenheit, sondern die Regel. In einkommensschwachen Familien spielt die Altersversorgung zwar auch eine Rolle bei der oft bewussten Entscheidung, mehr als zwei Kinder zu bekommen, doch das alltägliche Überleben ist ebenso wichtig.

Eine wesentliche Motivation informell beschäftigter Menschen mit niedrigen und instabilen Einkommen für die Gründung von Großfamilien ist die damit verbundene Hoffnung, mit Hilfe mehrerer Kinder das Familieneinkommen mittelfristig zu erhöhen. Vor diesem Hintergrund gehört auch die Kinderarbeit zum Alltag im Land.

Derweil bekommt die kinderreiche Mittelschicht inzwischen erbarmungslos zu spüren, wie wenig kompatibel Wirtschaftskrisen mit gewissen gesellschaftlichen Verpflichtungen sind. Denn angesichts massiv steigender Preise können immer weniger Familien die ausufernden Ausgaben für die im Mittelstand üblichen Hochzeitsexzesse in stadtbekannten Luxushotels samt Mitgift und Eigentumswohnung stemmen und verschulden sich.

Während im mittleren Einkommenssegment die Bereitschaft zugunsten einer gewissen Familienplanung durchaus ansteigt, ist dies angesichts der verhältnismäßig kleinen Mittelschicht im Land für den Bevölkerungszuwachs nur begrenzt relevant. Denn die Dynamiken, die den Kinderreichtum in der einkommensschwachen Masse antreiben, bleiben unverändert bestehen.

Während sich die Regierung der Problematik durchaus bewusst ist, mangelt es weiterhin an einer adäquaten Strategie für den Umgang mit dem Bevölkerungswachstum. Im Herbst sorgte zwar ein Gesetzentwurf für Debatten, der als erster Schritt hin zu einer Zwei-Kind-Politik verstanden werden kann und nicht nur Kampagnen zu Themen wie Geburtenkontrolle beinhaltet, sondern auch Anreize für eine partielle Familienplanung schaffen soll.

Doch solange solche Initiativen nicht in großem Maßstab umgesetzt und durch grundlegende Reformen der sozialen Sicherungssysteme flankiert werden, dürfte die Regierung mit solch halbherzigen Versuchen, das Bevölkerungswachstum unter Kontrolle zu bringen, gnadenlos scheitern.

Eine Meldung von Ende Februar 2017 stellt diese These allerdings in Frage. Ende Februar hatte der stellvertretende ägyptische Gesundheitsminister, Tarek Tawfeek, erklärt, die Anzahl der Geburten pro Jahr sei von 6,68 Millionen im Jahr 2015 auf nur noch 2,6 Millionen im Folgejahr und 2,55 Millionen im Jahr 2017 gesunken.

Dennoch bleibt abzuwarten, ob es sich dabei nur um eine vorübergehende mit der anhaltenden sozialen Misere verbundene Tendenz handelt und ob die Zahlen wieder ansteigen, sobald sich die wirtschaftliche Lage wieder stabilisiert.

Zusätzlich stellt die demographische Entwicklung die Regierung in Sachen Verkehrsinfrastruktur, Wohnraum und Wasserversorgung vor enorme Herausforderungen. Wenig überraschend hat sich die in dem AP-Film süffisant zusammengefasste Beschreibung der Kairoer Verkehrslage bis heute ebenso wenig verbessert wie die Wohnungsnot.

Der Verkehr ist nicht nur auf Kairos Hauptstraßen und den Nilbrücken chronisch verstopft, sondern selbst in Wohnvierteln, die als Ausweichrouten genutzt werden. Doch auch das aus allen Nähten platzende Nahverkehrsnetz hat massiven Nachholbedarf. Jüngste Investitionen in die U-Bahn werden angesichts des Bevölkerungszuwachses der Hauptstadtregion nicht annähernd für langfristige Entspannung sorgen.

Dabei zählt die Kairoer Metro bereits heute zu den meist frequentierten öffentlichen Nahverkehrsnetzen der Welt – und das mit nur zwei (sic!) fertig gestellten Linien. Das erste Teilstück der dritten Linie wurde 2012 eröffnet und ist inzwischen auf zehn Stationen erweitert worden. Eine vierte Linie ist bereits im Bau und soll bis 2032 um zwei weitere Trassen erweitert werden.

Auch der Wohnraummangel bleibt ein zentrales Problem, denn der Zugang zu Sozialwohnungen und bezahlbarem Wohnraum ist stark begrenzt. Entsprechend ist der informelle Siedlungsbau seit 2011 völlig außer Kontrolle geraten und breitet sich nicht nur in Ballungsgebieten und in der Wüste aus, sondern auch in den Provinzen und auf fruchtbarem Ackerland.

Zwar stehen nach Angaben der staatlichen Statistikbehörde Capmas landesweit fast 13 Millionen Wohnungen leer – 4,7 Millionen davon allein im Großraum Kairo – doch auch wenn ein Teil davon nicht bezugsfertig ist, ist das Problem hoher Leerstände hausgemacht und vor allem nicht neu.

Ein von Staatspräsident Gamal Abdel Nasser in den 1950ern eingeführtes und seither mehrfach revidiertes Mietrecht, das Wohnraum auch für Einkommensschwache zugänglich machen sollte und Mieterhöhungen massiv erschwert, war zwar gut gemeint, aber katastrophal umgesetzt.

Bis heute können derartige Mietverträge abgeschlossen werden, bei denen man sich für durchaus stattliche Beträge in einen Vertrag einkauft und anschließend bis zum Lebensende monatliche Mieten von wenigen ägyptischen Pfund zahlt. Da Wohnungseigentümer jedoch keine Mieteinnahmen erwirtschaften, werden die Gebäude nicht in Stand gehalten und verfallen.

Der Wohnungsmarkt ist derweil einer der führenden Investmentbereiche für Privathaushalte. Wer kann, investiert sein Barvermögen in Wohnungen, die angesichts einer enormen Nachfrage zu den sichersten Investitionsobjekten im Land zählen.

Gerade im Kontext der aktuellen Wirtschaftskrise und der damit einhergehenden Talfahrt des ägyptischen Pfundes steckten viele Menschen ihr Geld in Wohnungen, deren Preise seit 2015 explosionsartig gestiegen sind.

Die Wohnungsnachfrage wird dabei vom Bevölkerungswachstum, aber auch dem hohen Bedarf von verheirateten Paare getragen. Denn vor allem in der Mittelschicht investieren Eltern schon früh in Wohnungen für die eigenen Kinder, die nach dem Kauf oft jahrelang leer stehen.

Seit seiner faktischen Machtübernahme 2013 hat Al-Sisi den Wohnraummangel derweil mehrfach zur Priorität erklärt. Doch weder das in Kooperation mit der Firma Arabtec geplante Projekt zum Bau von einer Million Wohnungen noch weitere seither lancierte staatliche Bauinitiativen brachten den erhofften Befreiungsschlag.

Während derlei Projekte oft mit massiver Verspätung oder in weitaus geringerem Umfang umgesetzt werden als angekündigt, sind auch stadtplanerische Verfehlungen ein Hauptgrund für deren Scheitern. Denn die meist am Stadtrand oder in der Wüste errichteten Wohnsiedlungen oder Satellitenstädte verfügen oft lediglich über Wasser- und Stromnetzanschlüsse, aber keine städtische Infrastruktur oder Nahverkehrsanbindungen. Entsprechend zögerlich werden sie bezogen.

Während die Probleme großangelegter staatlicher Wohnungsbauprojekte ebenfalls seit Jahrzehnten bekannt sind, initiierte Al-Sisi kurz nach seinem Amtsantritt ein weiteres umstrittenes Megaprojekt, dessen Erfolgsaussichten aus politischen Gründen optimistischer einzuschätzen sind.

Das Regime baut östlich der Kairoer Stadtgrenze eine neue Verwaltungshauptstadt für fünf Millionen Menschen, in der Regierungsgebäude, Botschaften und andere staatliche Infrastruktur errichtet werden soll. Ein neuer Flughafen – keine 20 Kilometer vom Cairo International Airport entfernt – ist bereits betriebsbereit, ein von Siemens errichtetes Kraftwerk ebenso.

Ein neues Parlamentsgebäude und ein erstes Wohnviertel für 30.000 Menschen stehen kurz vor der Fertigstellung. Während in informellen Vierteln in Kairo, Giza oder Alexandria weiterhin regelmäßig ohne staatliche Aufsicht errichtete Gebäude einstürzen, mauert sich die Oberschicht in einer neuen luxuriösen Gated Community sprichwörtlich ein.

Das Projekt ist eine politische Bankrotterklärung des Regimes und der herrschenden Eliten, die damit vor allem demonstrieren, wie sehr sie sich vor einer abermals aufbegehrenden eigenen Bevölkerung fürchten.

Während Ägyptens Regierung bei der Bekämpfung von Wohnraummangel, sozialer Ungleichheit und Defiziten im öffentlichen Nahverkehr Gestaltungsspielräume ungenutzt lässt und sich harsche Kritik gefallen lassen muss, sind ihr bei der Wasserversorgung nur bedingt Vorwürfe zu machen.

Meerwasserentsalzung, Grundwasser und Regen decken lediglich fünf Prozent des ägyptischen Wasserverbrauchs ab, der Nil stellt die verbleibenden 95 Prozent bereit. Zwar wird derzeit verstärkt in Meerwasserentsalzungsanlagen investiert und eine intensivere Grundwassernutzung in Betracht gezogen, doch an der Abhängigkeit des Landes vom Nil kann auch die Regierung wenig ändern.

Ägypten verfügt dabei über nicht unerhebliche fossile Wasserreserven, doch deren Ausbeutung gilt als hochgradig komplex und ist stark umstritten. Zumindest bisher werden sie daher als strategische Reserve betrachtet, denn bei dem „Nubian Sandstone Aquifer“, der sich über Libyen, Tschad, Ägypten und Sudan erstreckt, handelt es sich um nicht erneuerbare Vorkommen.

Während Libyen bereits in den 1980er Jahren deren Ausbeutung initiierte und mit Hilfe des Great-Man-Made-River-Projekts die Wasserversorgung von rund 70 Prozent der eigenen rund sieben Millionen Menschen zählenden Bevölkerung sicherstellte, wäre eine solch großangelegte Grundwasserausbeutung in Ägypten angesichts des vielfachen Bedarfs höchst riskant und vor allem eine kurzlebige Option.

Zwar unterzeichneten die vier Staaten schon 2013 eine Rahmenvereinbarung über die gemeinsame Nutzung der Vorkommen, doch Ägyptens Regierung wolle behutsam mit den Reserven des Nubian Sandstone Aquifers umgehen, versichert der Sprecher des ägyptischen Außenministeriums, Ahmed Abu Zeid, gegenüber Telepolis:

Grundwasser gehört für jedes Land zu den potentiellen Wasser-Ressourcen, ganz besonders in dieser Region, aber wir nutzen das nur sehr vorsichtig, da es sich um nicht erneuerbare Ressourcen handelt.

Ahmed Abu Zeid

Umso wichtiger ist daher eine zügige Lösung des Konfliktes um den Bau eines Megastaudamms in Äthiopien, der über einen Zeitraum von mehreren Jahren Ägyptens Wasserversorgung einzuschränken droht, sowie vermehrte Anstrengungen, effizient und effektiv mit den vorhandenen Wasserressourcen im Land zu haushalten.

Kritik an mangelhafter Effizienz bei der Wassernutzung, Versickerungs- und Verdunstungsverlusten durch die in der ägyptischen Landwirtschaft gängige Oberflächenbewässerung und zu geringer Anstrengungen des Staates, das marode Wasser- und Abwassersystem in den Städten zu modernisieren und die Kapazitäten der Abwasseraufbereitung auszubauen ist zwar berechtigt, mutet aber in der oft vorgetragenen Vehemenz nur bedingt zielführend an.

Denn mit Hilfe eines weit verzweigten Kanalsystems, das vor allem im Nildelta eine fast flächendeckende Wasserversorgung garantiert sowie ein parallel verlaufendes Dränagenetz, dass landwirtschaftlich genutztes und im Boden versickertes Wasser zurück in die Kanäle leitet, wird es bereits mehrfach verwendet und eine Versickerung zumindest partiell verhindert.

Problematisch an diesem System sei vielmehr der Rückfluss von durch intensiven Düngemitteleinsatz kontaminiertem Wasser in die Kanäle, denen es an flächendeckenden Kläranlagen mangelt, heißt es von Vertreterinnen der internationalen Entwicklungskooperation. Auf lange Sicht werde damit nicht nur die Wasserqualität beeinträchtigt, sondern auch die Qualität landwirtschaftlicher Produkte.

Die so oft kritisierte Oberflächenbewässerung, aber auch die inzwischen reihenweise entstehenden Fischfarmen an der Mittelmeerküste, haben derweil noch eine weitere Funktion, deren Bedeutung keineswegs unterschätzt werden sollte.

Denn durch die Versickerung von Süßwasser wird die durch den Anstieg des Meeresspiegels verursachte Versalzung küstennaher landwirtschaftlich nutzbarer Flächen im nördlichen Nildelta verlangsamt und das sich dort stetig ausbreitende Salzwasser zugunsten eines stabilisierten Grundwasserspiegels zurückgedrängt.

Dieser wird jedoch andernorts unnötigerweise angezapft, denn diejenigen landwirtschaftlichen Kleinbetriebe, die am Ende von Bewässerungskanälen liegen, setzten angesichts der unzuverlässigen Kanalflutung durch die staatlichen Wasserbetriebe inzwischen vermehrt auf Brunnen, um den Bedarf ihrer Felder zu decken und die Instabilitäten bei der Kanalflutung zu kompensieren.

Diese aufgrund staatlicher Verfehlungen nicht funktionierende Bedarfsplanung könnte unterdessen von der Regierung ebenso in Angriff genommen werden wie die chronische Verstopfung und Verschmutzung der Bewässerungskanäle im Land. Eine höchst wirksame Lösung dieses Problems wäre der Aufbau einer landesweiten Abfallbeseitigung.

Denn die Kanäle verstopfen vor allem, da Hausmüll und landwirtschaftliche Abfälle wie Reisstroh landesweit in die Kanäle geworfen werden. Während der Staat das Abfallproblem konsequent ignoriert, verfügt der Großraum Kairo bereits über eine beeindruckende informelle Abfallwirtschaft, die 85 Prozent des eingesammelten Mülls recycelt.

Die ohne staatliches Zutun entstandene Müllwirtschaft wird vor allem von aus Oberägypten zugezogenen koptischen Christen getragen, die Abfälle im gesamten Stadtgebiet einsammeln, in eines der sechs Müllviertel bringen, diesen dort sortieren und als Rohstoff weiterverkaufen.

Die Formalisierung der sogenannten Zabaleen wurde 2013 durch Umweltministerin Leila Iskander erstmals prioritär behandelt und mit staatlicher Hilfe vorangetrieben, doch nach ihrer Entlassung nur ein Jahr später wieder zu den Akten gelegt.

Dabei würde die Formalisierung der Zabaleen die längst überfällige Einführung eines landesweiten Abfallmanagements erlauben, das nicht nur Jobs schaffen, sondern auch die Verschmutzung von Böden und Wasserressourcen wirksam bekämpfen könnte.

Zwar reagiert die Regierung nur unzureichend auf Bevölkerungswachstum, Wohnraummangel und Umweltverschmutzung, betrachtet die Absicherung der Wasserversorgung durch den Nil jedoch als politische Priorität und agiert in den seit Jahren laufenden Verhandlungen mit Äthiopien und Sudan durchaus geschickt.

Bis heute ist unklar, inwieweit der Great Ethiopian Renaissance Dam (GERD ) im Norden Äthiopiens nahe der Grenze zum Sudan, Ägyptens Wasserversorgung einschränken wird, doch angesichts der für 2019 geplanten Fertigstellung der größten Talsperre Afrikas ist der Konflikt um das Megaprojekt akuter denn je.

Äthiopien will mit dem 1,8 Kilometer langen, 155 Meter hohen und 3,4 Milliarden Euro teuren Damm seine Stromproduktion vervielfachen und damit die wirtschaftliche Entwicklung des Landes vorantreiben. Doch die Füllung des vor der Talsperre gelegenen Stausees, der bis zu 74 Milliarden Kubikmeter Wasser fassen soll und daher in der Aufstauphase zu nicht unerheblichen Verlusten der Wasserversorgung Sudans und Ägyptens führen könnte, sorgt für Zündstoff zwischen Addis Abeba, Khartoum und Kairo.

Auf der Grundlage eines in den südlichen Nilanrainerstaaten umstrittenen Abkommens von 1959 stehen Ägypten von den rund 84 Milliarden Kubikmetern Wasser, die durchschnittlich jedes Jahr den Nil hinunterfließen, 55,5 und Sudan 18,5 Milliarden Kubikmeter zu. Äthiopien versicherte zwar wiederholt, es wolle kein Wasser zur landwirtschaftlichen Bewässerung abzweigen, doch Ägypten ist nicht ohne Grund beunruhigt. Schließlich präferiert Äthiopien eine zügige Füllung des Stausees und brachte eine Zeitspanne von nur drei Jahren ins Spiel.

Konkrete Zahlenspiele seien jedoch „verfrüht“ und „hypothetisch“, erklärt Ahmed Abu Zeid, dessen Ministerium federführend an den Verhandlungen mit Äthiopien und Sudan beteiligt ist. Denn die technischen Studien zu den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Folgen des Staudamms, auf deren Grundlage unterschiedliche Szenarien für die Füllung des Stausees ausgearbeitet werden sollen, seien noch nicht abgeschlossen, da sich die drei Regierungen über die Methodik der Studien uneins sind.

Die trilateralen Verhandlungen stocken bereits seit Monaten und konnten erst nach einem Treffen der drei Staatschefs Ende Januar in Addis Abeba wieder in Gang gebracht werden.

Doch die neue Dynamik in den Gesprächen war nur von kurzer Dauer. Der Rücktritt von Äthiopiens Premierminister Hailemariam Desalegn Mitte Februar und die Ausrufung des Ausnahmezustandesals Reaktion auf eine abermalige Protestwelle im Land erweisen sich als zusätzliches Hindernis, den Konflikt mit Sudan und Ägypten über den GERD zügig beizulegen.

Während Ägypten angesichts der zuletzt enger gewordenen Allianz zwischen Sudan und Äthiopien zunehmend in die Defensive gedrängt wurde, erhöht die Regierung in Kairo Desalegns Rücktritt den Druck auf Addis Abeba und versucht, aus den fortdauernden politischen Instabilitäten in Äthiopien politisches Kapital zu schlagen.

Dennoch sind die Zeiten offener Kriegsdrohungen in Zusammenhang mit dem Staudamm offenbar vorbei. Die Regierung in Kairo agierte zuletzt durchaus geschickt und flankierte die Gespräche mit seinen südlichen Nachbarn mit wirtschaftlichen und infrastrukturpolitischen Vorstößen und setzte auf eine betont kompromissbereite Linie.

Kairo brachte nicht nur grenzüberschreitende Straßen- und Schienenverbindungen zwischen den drei Ländern ins Spiel, sondern auch die Errichtung einer Stromtrasse und kam damit Äthiopiens Plänen entgegen, Strom zu exportieren.

Ägypten setze auf „vertrauensbildende Maßnahmen“ und „kooperative Beziehungen“ zu Sudan und Äthiopien, schließlich könne eine intensivierte wirtschafts- und handelspolitische Integration der drei Länder die regionale Kooperation stärken, so Abu Zeid. Sein Land erwäge zudem verstärkt in Äthiopien zu investieren und will damit offenbar Anreize für Äthiopien schaffen, sich mit der Füllung des Stausees Zeit zu lassen.

Das entwicklungspolitische Potential einer verstärkten regionalen Integration ist zwar vorhanden, doch die innenpolitischen Turbulenzen in Äthiopien, aber auch im Sudan, drohen die Verhandlungen über den GERD zumindest mittelfristig zu überlagern. Nachdem auch der Sudan Anfang Januar mit regierungskritischen Protesten konfrontiert war, bahnten sich mehrere seit langem schwelende Konflikte zwischen Kairo und Khartoum einen Weg zurück an die Oberfläche.

Während Ägypten Sudan vorwirft, „Terroristen“ der Muslimbruderschaft zu unterstützen, warf Khartoum Ägypten vor, Mitglieder der Rebellenbewegung Justice and Equality Movement Unterschlupf zu gewähren.

Auch der Grenzstreit um das an der sudanesisch-ägyptischen Grenze gelegene und seit Mitte der 1990er Jahre von Ägyptens Militär kontrollierte Halayeb-Shalateen-Dreieck sorgt abermals für Verstimmungen zwischen beiden Staaten.

Der Besuch des sudanesischen Außenministers, Ibrahim Ghandour, und Sudans Geheimdienstchef, Mohamed Atta Al-Mawla Abbas, in Kairo Anfang Februar sollte zwar ein Zeichen der Entspannung aussenden, doch vor dem Hintergrund der von Kairo misstrauisch beäugten Annäherung zwischen dem Sudan und der Türkei wird in der Region seit Jahresbeginn zunehmend mit den Muskeln gespielt.

Im Zuge der Visite des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan im Sudan im Dezember wurden nicht nur mehrere Wirtschaftsabkommen unterzeichnet, sondern auch eine befristete Übergabe der im Roten Meer gelegenen Insel Suakin an die Türkei vereinbart, die diese auch militärisch nutzen will.

Ägypten, das unter Al-Sisi deutliche Ambitionen auf mehr Kontrolle im Roten Meer anmeldet, ist über die Vorstöße der Türkei in der Region wenig erfreut. Gerüchte über die Verlegung ägyptischer Truppen auf eine von den Vereinten Arabischen Emiraten genutzten Militärbasis in Eritrea halten sich seither beharrlich, werden in Kairo jedoch dementiert.

Die jüngsten Rangeleien zwischen Kairo, Ankara und Khartoum, aber auch die innenpolitischen Turbulenzen in Äthiopien und im Sudan gefährden dabei eine zügige politische Lösung des Konfliktes und lenken auf unabsehbare Zeit von der eigentlich wichtigsten Frage im Kontext des GERD ab, an deren Beantwortung die beteiligten Regierungen bisher nur partiell Interesse zeigen; den nicht absehbaren ökologischen Konsequenzen des Projektes für die gesamte Region.

© Sofian Philip Naceur 2018