Spekulierender Westen – Unfall oder Anschlag?

Auch eine Woche nach dem Absturz einer russischen Passagiermaschine über dem Norden der ägyptischen Sinai-Halbinsel reißen die Spekulationen über die Gründe für das Unglück nicht ab. Dementierte Ägyptens Regierung unmittelbar nach dem Absturz der Maschine mit 217 Passagieren und sieben Crewmitgliedern an Bord sämtliche Spekulationen über einen möglichen Anschlag auf die Maschine, verdichten sich inzwischen die Anzeichen, dass es sich doch um ein Attentat gehandelt haben könnte – so jedenfalls äußern sich Regierungsstellen aus den USA und Großbritannien (erschienen in Junge Welt am 6.11.2015).

Während Ägypten die Auswertung des zweiten Flugschreibers, der nach Angaben ägyptischer Behörden beschädigt geborgen wurden, abwarten will, nähren Washington und London die Hypothese, das Flugzeug sei aufgrund eines Bombenattentats abgestürzt. Großbritanniens Außenminister Philip Hammond betonte am Mittwochabend, es gäbe eine „beträchtliche Möglichkeit“, dass der Absturz durch einen Sprengkörper verursacht wurde. Zu diesem Schluss sei die Regierung nach Auswertung mehrerer Quellen gekommen. Auch aus Washington sind ähnliche Töne zu vernehmen. Der Fernsehkanal CNN und die Nachrichtenagentur AFP berichten unter Berufung auf offizielle Stellen, eine Bombe sei „sehr wahrscheinlich“ der Auslöser für den Absturz des russischen Airbus.

Ägyptische Regierungsvertreter hingegen reagierte ungehalten über derlei Spekulationen. Außenminister Sameh Shoukry bezeichnete diese gegenüber CNN und dem britischen TV-Sender BBC als „unberechtigt und verfrüht“. Die jüngsten Debatten könnten Ägyptens angeschlagenen Tourismussektor schädigen. In der Tat dürfte die anhaltende öffentliche Diskussion über die möglichen Ursachen des Absturzes den seit Beginn der ägyptischen Revolution 2011 unter Druck stehenden Tourismussektor im Land weiter schädigen. Zahlreiche international operierende Fluglinien hatten bereits letzte Woche angekündigt den Nord-Sinai nicht mehr überfliegen zu wollen – aus Sicherheitsgründen. Im Norden des Sinai bekämpft Ägyptens Militär schon seit 2013 schwer bewaffnete radikalislamistische Gruppen, die regelmäßig Attentate auf Polizei- und Militärposten verüben. Bis heute ist unklar, inwiefern diese Gruppen, die sich offiziell dem Islamischen Staat (IS) angeschlossen haben, auch Ägyptens Tourismussektor als Angriffsziel betrachten.

Das ägyptische Tourismusministerium stoppte bereits letzte Woche eine groß angelegte Werbekampagne, die in sechs europäischen Ländern für den Tourismusstandort Ägypten werben sollte. Über 70 Prozent der jährlich nach Ägypten reisenden Touristen kommen aus Europa.

Ägyptens Staatspräsident Abdel Fattah Al-Sisi reiste derweil planmäßig zum Staatsbesuch nach London, wo er sich mit Großbritanniens Premierminister David Cameron treffen will. Der Besuch reiht sich ein in Al-Sisis Charmeoffensive in Europa, die ihn seit seinem Amtsantritt 2014 schon nach Paris, Berlin, Madrid und Rom geführt hat. Neben Wirtschafts- und Investitionsabkommen standen dabei vor allem Vereinbarungen im Bereich der militärischen und polizeilichen Kooperation im Vordergrund. Während Deutschland trotz der angespannten Menschenrechtslage und der autokratischen Regierungsführung Al-Sisis den Polizeiapparat am Nil weiterbildet, setzen Spanien und Großbritannien auf militärische Kooperation mit Kairo. Und das nicht ohne Kritik, denn sowohl Ägyptens Militär als auch die Polizei werden beschuldigt zu foltern und willkürlich Gewalt gegen Oppositionelle und Zivilisten einzusetzen. Dies wiederum legitimiert Al-Sisi mit dem Kampf gegen den Terror, der ihm einen Vorwand gibt staatliche Befugnisse auszuweiten und Freiheitsrechte zu beschneiden. Die anhaltenden Spekulationen über einen terroristischen Hintergrund des jüngsten Flugzeugabsturzes nutzen Al-Sisi dabei seine konfrontative Innenpolitik weiter voranzutreiben und sie helfen Cameron, denn dieser steht dank seiner militärischen Kooperation mit Kairo in der Kritik. Dass die Presse derzeit wenig über die Proteste gegen Al-Sisis Besuch in London schreibt und sich vielmehr den Spekulationen über die Gründe für den Absturz widmet, kommt Cameron daher grade recht.

© Sofian Philip Naceur 2015

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